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20.08.05 / Ein Philosoph

© Preußische Allgemeine Zeitung / 20. August 2005

Ein Philosoph
von Heinz Kurt Kays

Im Masurischen hat es - wie wohl überall - eine Menge in sich gekehrter, grüblerischer Menschen gegeben, die versucht waren, den Sinn des Lebens und der sie umgebenden Welt zu ergründen. Dabei ist nicht gedacht an jene, die ihr Wissen auf der Universität erworben haben und sich um den "kategorischen Imperativ" kümmerten oder das "Endliche im Unendlichen" zu erforschen trachteten. Nein, die Rede soll sein von einfachen Leutchen aus dem Volk, in deren Köpfen manch krause oder skurrile Idee spukte, die sie einer meist etwas merkwürdigen Erklärung zuzuführen suchten.

Einer, der sich als eine Art Dorfphilosoph abmühte, hinter den Zweck einiger Dinge zu kommen, war der Gemeindeschuster Emil Matejka, beheimatet in Borutten, einem nicht unansehnlichen Örtchen unweit der polnischen Grenze. Dieser Emil Matejka saß seit gutding 20 Jahren Tag für Tag auf einem dreibeinigen Schemel in seiner Werkstatt, flickte löcherig gewordene Schuhe, besohlte derbe Bauernstiefel und hatte dabei reichlich Zeit, seine Gedanken schweifen zu lassen und über alles nachzusinnen, was ihm durch den Kopf zu gehen pflegte.

Natürlich befaßte er sich nicht mit den großen, noch ungelösten Rätseln des Weltalls wie der Menschheit. Was ihm zu schaffen machte, waren jene Alltagsdinge, die ihn und die anderen Bewohner seiner masurischen Heimat betrafen. Darüber "simulierte" er - wie man in Borutten sagte - und wälzte diese Problemchen im Kopf hin und her, bis er zu einem Ergebnis kam. Ob dieses immer plausibel ausfiel, kann nicht garantiert werden, es war jedoch meist recht originell. Immerhin galt der Schuster an seinem Wohnort und auch darüber hinaus als Schlauberger und pfiffiges Kerlchen.

Da war etwa die Sache mit dem Wasser. Davon gab es wahrhaftig genug in jenem Landstrich, in dem unser Dorfphilosoph zu Hause war. So konnte man etwa zu Fuß in knapp einer Viertelstunde drei verschiedene Seen ganz bequem erreichen. Und in jedem von ihnen war es möglich zu baden, zu angeln oder auch darauf Bootchen zu fahren. Es war also gewiß kein Mangel an Wasser in Borutten. Wie deshalb dieser Emil Matejka auf den Gedanken verfallen konnte, sich eine Welt ganz ohne das nasse Element auszumalen, wußte er wohl selbst nicht so genau. Doch er tat es und das Ergebnis soll hier mitgeteilt werden.

"Wenn", so sagte sich der sinnierliche Schuster, "wenn es würde kein Wasser geben, keinen Tropfen davon, dann ... so konnte niemand Schwimmen lernen!" Nach dieser Schlußfolgerung hielt er inne, um eine Schlaufe an den Reitstiefel des Gutsverwalters Dombrowski zu nähen. Als dies vollbracht war, führte er seinen Gedankengang fort: "Wenn aber keiner schwimmen könnte, dann müßten ja ertrinken die Menschen!" Emil Matejka war selbst überrascht von diesem Resultat. Und nach einiger Überlegung beschloß er, das Ergebnis seines Gedankengangs für sich zu behalten und nicht an die Dorföffentlichkeit zu bringen.

Ein anderes jedoch hängte er an die große Glocke. Soll heißen, er machte es auf der großen Schiefertafel publik, welche über der Theke im Dorfkrug von Borutten hing und auf der sonst der Gastwirt Pawellek die Zechschulden seiner Gäste anzukreiden pflegte. Ausgangspunkt seiner Demonstration war eine Behauptung, die Emil Matejka an einem Sonnabend in der vollbesetzten Schankstube aufgestellt hatte. Und die lautete also: "Ein Pferd hat sieben Beine!"

In masurischen Landen, wo jedermann den Ruf als Pferdeliebhaber und -kenner beanspruchte, rief dies selbstredend allgemeines Hohngelächter und wütendes Protestgeschrei hervor. Der ebenfalls anwesende Ortsbürgermeister Kundries brachte es gewissermaßen auf den Punkt, indem er feststellte: "So eine Dammlichkeit aber auch. Wo doch jedes kleine Kind weiß, daß ..." Aber Emil Matejka ließ ihn nicht ausreden. "Nu", erklärte er unbeeindruckt, "ich werd's beweisen. Und ganz leicht sogar." Mit diesen Worten schritt er zu der erwähnten Schiefertafel, wischte sie mit einem nassen Schwamm sauber und griff zu der danebenliegenden Kreide.

"Paßt gut auf alle", so wandte er sich an die Gäste im Dorfkrug, "so wie früher mal in der Schule. Denn ich werd' euch jetzt eine Rechenaufgabe stellen." Gesagt, getan - Emil Matejka schrieb mit etwas krakeligen Buchstaben dieses auf die Tafel: "Ein Pferd hat vier Beine." Dann fragte er in die Runde: "Stimmt doch, oder?" Allgemeines Nicken, worauf es weiterging auf der Schiefertafel des Dorfwirts: "Kein Pferd hat drei Beine." Auch dies wurde akzeptiert.

"Und nu?" schaltete sich das Ortsoberhaupt Kundries ein. "Wie geht es nu weiter?" Der Schuster gab bereitwillig Auskunft: "Nu erinnert euch bittschön bißchen, wie ihr gelernt habt bei unserem Herrn Lehrer Kluge das Zusammenzählen." Er deutete auf das, was er an die Tafel geschrieben hatte: "Erst mal die linke Seite. Ein Pferd und kein Pferd, wieviel gibt das?" Natürlich war es wiederum der Bürgermeister von Borutten, der die Antwort parat hatte: "Das gibt, du Neunmalschlauer, ein Pferd!"

"Richtig", lobte ihn Emil Matejka, "und nu möcht' ich bitten, daß wir kommen zur rechten Seite der Rechnung. Da stehen - wie zu sehen ist für jedermann - vier Beine und drei Beine. Das gibt, wenn man zusammenzählt, wieviel Beine?"

In der Wirtsstube herrschte ein Weilchen Schweigen, dann murmelte der Kätner Borowski: "Sieben, oder nicht?" Der Schuster Matejka zollte auch ihm Anerkennung: "Stimmt genau", verkündete er jedenfalls.

Und dann fuhr er fort: "Also haben wir das Resultat herausbekommen. Nämlich auf der linken Seite steht ein Pferd und auf der rechten, da stehen sieben Beine. Damit ist bewiesen, was ich zu Anfang gesagt habe. Ein Pferd hat sieben Beine!" Sprach's, wischte die Tafel wieder sauber, warf ein paar Geldstücke auf die Theke und schritt stracks zur Tür der Gaststube hinaus.

Vier Wochen lang trank Emil Matejka danach sein Feierabendbier übrigens zu Hause, denn er kannte die Leutchen aus Borutten und er war nicht nur ein nachdenklicher, sondern auch ein vorsichtiger Mann.

Doch diese Zeit ging schnell dahin und bald darauf verhandelte der Schuster mit August Kundries, dem Großbauern und Bürgermeister, über den Kauf einer Milchkuh. Das Geschäft war eigentlich schnell abgeschlossene Sache, nur über den Preis konnte man sich nicht einig werden. Denn natürlich war es so: Was der Verkäufer forderte, war dem Käufer viel zu viel. Und was dieser bot, war jenem entschieden zu wenig.

"Nu laß nach ein bißchen", bat Emil Matejka endlich, "ich bin ja kein Millionär!" Doch der Bürgermeister schüttelte den kantigen Schädel: "Nuscht da, Lieberchen, so haben wir nich' gewettet. Sie gibt jeden Tag mindestens 20 Liter Milch, die Liesa. Solch eine Kuh gibt's nur selten, garantiert! Und auf der ganzen Welt ist so: Was selten ist, das ist auch teuer. Glaub mir."

"Ich glaub dir ja", erwiderte Schuster Matejka, "aber stimmen tut's nich' ganz, denn, August Kundries, noch viel seltener ist eine Kuh, welche gibt 20 Liter beim Melken und doch billig ist bei alldem."

Über diese Erkenntnis des Dorfphilosophen mußte der Bauer ein Weilchen nachdenken. Dann kam ihm ein Schmunzeln an und er meinte. "Wo du recht hast, da hast recht. Und deshalb werd' ich nachlassen beim Preis um ganze zehn Mark." Worauf Emil Matejka zufrieden abzog mit der seltenen Kuh Liesa.

Und er hat weiterhin sinniert über dieses und jenes, wenn er in seiner Werkstatt hantierte mit Ahle, Zwirn und Schusterpech. Was dabei herauskam, das ging stets rund im masurischen Borutten. Einiges davon soll erzählt werden ein anderes Mal - vielleicht.


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