29.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
27.08.05 / "Wider die Republik der Opfersortierer"

© Preußische Allgemeine Zeitung / 27. August 2005

"Wider die Republik der Opfersortierer"

Sechs Jahrzehnte nach der Errichtung von GULag-Außenstellen auch auf deutschem Boden mit den letzten Überlebenden dieser einst westlichsten Lager des stalinschen Massenverfolgungs- wie -vernichtungssystems zusammenzutreffen bedeutet, Dankbarkeit zu vernehmen angesichts der Tatsache, jene düstere Lagerwelt überlebt zu haben oder, wie meine Generation, ihr gar nicht erst ausgeliefert gewesen zu sein. Was es vor allem bedeutet, ist: Täglich, besonders in Deutschland und hier primär auf der Ebene von Geschichtspolitik in Wissenschaft, Parteien, Medien und im Rahmen juristischer Winkelzüge, der kalten Provokation asymmetrischer Empathie für das am eigenen Leib erfahrene Unrecht und Leid zu begegnen. Asymmetrische Empathie bedeutet in diesem Kontext und im Vergleich mit den Opfern des NS-Systems: ungleiche Empfindungskraft für die Leiden von Millionen und Abermillionen Opfern des GULag-Systems ...

Knut Nevermann, Ministerialdirektor bei der Kulturstaatsministerin, glaubte, auf einer Tagung der Landesbeauftragten für die Unterlagen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, zu der auch zahlreiche Opferverbände aus Deutschland und osteuropäischen Staaten geladen waren, von solch geschichtsideologisch überhöhter Plattform aus Überlebenden des GULag-Systems sowie politisch schwer Verfolgten der SED-Diktatur ungeniert die für ihn daraus resultierende Logik einer Opferhierarchie zumuten zu können: "Wer nicht weiß, daß es einen Unterschied macht, ob ich gegenüber einem jüdischen Volk über Entschädigung nachdenke oder über Opfer in der DDR, wer das nicht weiß ..., der tut mir leid. Das ist das kleine Einmal-eins der politischen Kultur der Bundesrepublik, daß man dort Unterschiede macht."

Nevermanns kleines "Einmaleins der politischen Kultur der Bundesrepublik" ist nichts anderes als ein großes moralisches Armutszeugnis der Generation der 68er, der er sich expressis verbis zugehörig fühlt. Es ist zugleich ein makabres Reifezeugnis in barbarischer Gefühlskälte und ideologisch motivierter Abblockmentalität und damit Formel für die nicht erst in dieser Äußerung sichtbar gewordene ethisch regressive Entwicklung der politisch-sittlichen Grundverfaßtheit des wiedervereinigten Deutschlands. Denn Nevermann, wie alle ideologischen Opfersortierer der mindestens wissensinstitutionell seit Jahrzehnten gekaperten Republik, die heute den geschichtspolitischen Verfälschungston nicht nur angeben, sondern per Gesetz zu exekutieren versuchen, kann wissen, was Stalinismus auf deutschem Boden praktisch bedeutet hat - das nämlich, was er überall in Osteuropa und Rußland bedeutete: Massenverfolgung und Massenmord an unschuldigen Menschen durch die Häscherkommandos und Folterknechte des NKWD unter organisatorischer Führung von Lawrentij Berija ...

Auch Stalin machte sich Hitlers Erfahrung zunutze, ja er genierte sich nicht, die Tore von Buchenwald, Sachsenhausen sowie anderer deutscher Lager sofort wieder zu öffnen, nachdem der letzte Insasse sie gerade verlassen hat, um dort aufs neue alle Regimegegner zu internieren, unter anderem Nazis, aber auch andere Nichtkommunisten - darunter eine gewisse Anzahl ehemaliger Häftlinge. Man schätzt die Zahl dieser neuen Häftlinge der alten Lager auf 120.000, von denen etwa 45.000 ums Leben kamen: teils wurden sie erschossen, teils starben sie an den Folgen von Hunger, Krankheit und Erschöpfung.

Was aber bedeutet dieses vergleichende Sehen und Erarbeiten einer ungeteilten Empathie für die Opfer der totalitären Regime der National- und Internationalsozialisten wirklich? Eine große, ermutigende Antwort darauf hat der spanische Schriftsteller Jorge Semprun - Ex-Kommunist und Ex-Häftling des NS-Lagers Buchenwald - auf der Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag der Befreiung dieses Lagers durch amerikanische Truppen gegeben: Der "kürzlich erfolgte Beitritt von zehn neuen Ländern aus Mittel- und Osteuropa - dem anderen Europa, das im sowjetischen Totalitarismus gefangen" gewesen sei -, könne, so Semprun, "kulturell und existentiell erst dann wirksam erfolgen, wenn wir unsere Erinnerungen miteinander geteilt und vereinigt haben werden". Bis dahin kann deshalb die durch uns zu verabreichende Medizin ebenso notwendig nur bitter sein.

Staunenden Blickes: Eine englische Schulklasse bei einem Besuch des KZ-Sachsenhausen. Auch ihnen wird in erster Linie von den Opfern des NS-Systems erzählt. Die deutschen Opfer des Sowjetsystems späterer Zeiten stehen im Hintergrund. Foto: privat


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren