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10.09.05 / Der lange Abschied des Medienkanzlers / Schröder kämpft nicht mehr um den Machterhalt, sondern um den Fortbestand der SPD

© Preußische Allgemeine Zeitung / 10. September 2005

Der lange Abschied des Medienkanzlers
Schröder kämpft nicht mehr um den Machterhalt, sondern um den Fortbestand der SPD

In 60 Prozent aller Fernsehhaushalte wurden die Deutschen zwischen Husum und Ulm am vergangen Sonntag Zeuge des von den Sendeanstalten im Vorfeld als Vorentscheidung für die Bundestagsneuwahl hochstilisierten Duells zwischen Bundeskanzler und Herausforderin. Nach 94 Minuten war die Legende von dem unschlagbaren Medienkanzler Gerhard Schröder ebenso Vergangenheit wie die lagerübergreifende Erwartung, mit Angela Merkel würde die Auseinandersetzung über Zukunftsfragen der Bundesrepublik schärfere Konturen erhalten.

Das Duell, ausgetragen mit dem Verbal-Florett, nicht mit dem Degen, fand seinen unterhaltsamen Höhepunkt bei der Frage, ob sich eine Kanzlergattin aktiv in die Politik einmischen dürfe. Schröders Antwort: "Meine Frau hat das gute Recht, die Wahrheit zu sagen und sich immer zu äußern. Sie sagt, was sie denkt, und lebt, was sie sagt." Dann fügte der Kanzler einen Satz hinzu, der Angela Merkel ein mildes Lächeln entlockte: "Das ist nicht zuletzt der Grund, warum ich sie liebe."

Dies klang fast schon wie der Abschied eines Staatsmannes, der sich längst auf dem langen Lauf zurück zu sich selbst befindet - als Privatmann. "Ich will hier rein", hatte der Jungpolitiker Schröder einst gerufen, als er am Zaun des Kanzleramts rüttelte. Jetzt wirkte es fast wie ein "Holt mich hier raus!". Ganz sicher aber nahm im Fernsehen eine Politaufführung ihr vorläufiges Ende, die der Hauptdarsteller selber immer auch als Medieninszenierung verstand - eine Rückschau, die am 19. September schon politischer Nachruf sein könnte: Lange Zeit galt Gerhard Schröder als Prototyp sozialdemokratischer Milieukarriere: Im April 1944 in Mossenberg-Wöhrer im Lippischen geboren, der Vater ein reisender Kirmesarbeiter, der mit 32 in Rumänien fiel. Vier Geschwister. Bauhilfsarbeiter, mittlere Reife in der Abendschule, das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg. Jurastudium und schließlich Zulassung als Rechtsanwalt. "Ich habe nie vergessen, wo ich herkomme."

Die Parteikarriere - ein Parforceritt: Mit 19 Eintritt in die SPD (zehn Jahre später auch in die ÖTV). Chef der Jusos zuerst im Bezirk Hannover, dann auf Bundesebene. 1980 das erste Bundestagsmandat, 1986 Oppositionsführer in Niedersachsen. 1990 trat Schröder, als Nachfolger des Christdemokraten Ernst Albrecht, an die Spitze einer rot-grünen Landesregierung in Hannover, schon vier Jahre später konnte er mit absoluter Mehrheit regieren. Zusammen mit dem Saarländer Lafontaine und dem Rheinland-Pfälzer Scharping bildete er eine Troika vom Patriarchen Willy Brandt auserkorener "Enkel".

Als Landesfürst in Niedersachsen pflegte Schröder an der Seite seiner zweiten Ehefrau Hiltrud ("Hillu") einen die öffentliche Wirkung betonenden Regierungsstil mit Privatflügen zum Wiener Opernball, Curry-Wurst-Streiterein und mediengerechtem Rosenkrieg. Das Modell der "Clintons von der Leine" war beendet, als Schröder die Journalistin Doris Köpf kennenlernte.

1998 setzte sich Schröder gegen Lafontaine und Scharping im Ringen um die Kanzlerkandidatur durch, wurde im selben Jahr zum siebten Bundeskanzler gewählt und übernahm kurz danach auch den Vorsitz der SPD. Im Bund startete das "Projekt Rot-Grün", deren Vormänner wie Joschka Fischer vornehmlich aus der 68er-Bewegung stammten. "Zum Regieren braucht man Bild, BamS, Glotze", gab Deutschlands erster Medienkanzler als Leitlinie vor. Schröder trug Cashmere und rauchte Cohiba, saß bei Thomas Gottschalk auf dem roten Sofa und trat als Gaststar in der Seifenoper "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" auf - ein Serientitel, der ihm selbst zum Programm geriet: Inspiriert von den Erfolgen seines Londoner Labour-Freundes Tony Blair rückte Schröder die SPD substantiell nach rechts und eroberte rasch mit der Generation der 30jährigen eine "Neue Mitte", die er ebenso schnell mit dem Zusammenbruch der virtuellen "New Economy" wieder verlor. Er suchte die Nähe der Wirtschaft, avancierte zum "Genossen der Bosse" - und vergaß, seine Partei auf seinem Weg mitzunehmen. Als erster Bundeskanzler schickte Schröder Bundeswehrsoldaten in bewaffnete Auslandseinsätze, ließ Atommeiler vom Netz gehen und wagte sich gegen ein Interessenkartell an eine Reform des Gesundheitswesens.

Schröder profitierte von der Spendenaffäre der CDU und spaltete die Union bei seiner Steuerreform. Während seine eigenen Popularitätswerte in der Bevölkerung konstant oben blieben, verlor seine Partei Landtagswahlen in Serie und 200.000 Mitglieder, bis er 2004 den Vorsitz entnervt an Franz Müntefering übergab.

Kein Kanzler vor ihm ging so vieler Kabinettsmitglieder verlustig - zwölf Namen, die auch für sieben Jahre Schröder stehen: Lafontaine (Finanzen), Hombach (Kanzleramt), Däubler-Gmelin (Justiz), Müller (Wirtschaft), Funke (Landwirtschaft), Riester (Arbeit), Scharping (Verteidigung), Bergmann (Familie), Fischer (Gesundheit), Klimmt und Bodewig (beide Verkehr), Naumann (Kultur).

Während das Personal beständig wechselte, blieb Schröder seinem Anspruch als erster deutscher Medienkanzler treu: Nach der Wiederwahl 2002, begünstigt von einer verheerenden Flutkatastrophe im Osten der Republik und einer wiedererstarkten Friedensbewegung, die den Amerikanern nicht in den Irak folgen wollte, holte er sich mit Bela Anda einen Chefreporter der Bild-Zeitung als Regierungssprecher, der zuvor als Schröder-Biograph in Erscheinung getreten war.

Aber: Schröder scheiterte, weil das (zu spät angegangene) Herzstück seiner Politik, die notwendige Reform von Arbeitsmarkt und sozialen Sicherungssystemen, im Volk nicht mehr vermittelt werden konnte - der Liebling der Medien versagte als Kommunikator: Mit der "Agenda 2010", in deren Zentrum die nach dem VW-Personalvorstand Peter Hartz unter dem Rubrum "Hartz IV" firmierende Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe stand, führte Schröder die Menschen nicht hinter sich - sondern auf die Straße. Massenhafte Proteste vor allem im Osten, vielerorts nach dem Vorbild der "Montagsdemos" aus der Wendezeit inszeniert, setzten ein und trieben schließlich den DGB aus dem von Schröder geschmiedeten "Bündnis für Arbeit'". Am Ende zerbrach die historische Allianz zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratie. Überdies entstand um den Populisten Oskar Lafontaine und den Spätkommunisten Gregor Gysi mit der "Linkspartei" ein Auffangbecken auch für enttäuschte Sozialdemokraten, das sich anschickt, in den neuen Bundesländern stärkste politische Kraft zu werden und die SPD bundesweit zu spalten.

In den letzten anderthalb Regierungsjahren gingen in Deutschland an jedem Werktag tausend sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren, die Zahl der Arbeitslosen stieg auf offiziell gezählte fünf Millionen. Während das Land kollabierte, ließ sich sein Kanzler am Grab des Vaters fotografieren oder adoptierte, mit freundlicher Unterstützung des Russen Wladimir Putin, eine Waise - Medieneffekte verdrängten Richtlinienkompetenz.

Das Kanzleramt wurde zur Wagenburg, in die sich Schröder, der sich im Zentrum eines gegen ihn gerichteten Komplotts der eigenen Regierungsfraktionen sah, mit den verbliebenen Getreuen zurückzog, bevor er nach dem Verlust der Regierungsmacht an Rhein und Ruhr schließlich aufgab und Neuwahlen anstrebte: wissend, daß die Partei längst die Nach-Schröder-Ära bereitete.

Gute Zeiten, schlechte Zeiten.

Im Berliner "Estrel Convention Center" hielt Gerhard Schröder drei Tage vor dem TV-Duell noch einmal eine Parteitagsrede. Den 500 anwesenden Genossen und tausend Gästen ward dabei klar, daß der Kanzler nicht mehr für sich, sondern für den Fortbestand der Partei kämpfte: "Angela Merkel will eine andere Gesellschaft, in der für Solidarität und Gerechtigkeit kaum mehr Platz ist. Die Union plant einen Raubtierkapitalismus." rief Schröder - und erntete zwölf Minuten langen Applaus. 66mal, in Worten: sechsundsechzig, bedankte sich der Kanzler mit der Hammerwerfer-Jubler-Pose und umarmte den anwesenden Porsche-Betriebsratsvorsitzenden Uwe Hück: die symbolträchtige späte Wiederannäherung an die Gewerkschaften.

Allein: 73 Prozent der Deutschen sind inzwischen davon überzeugt, daß der 18. September den Wechsel im Kanzleramt bringen wird. An dieser Einschätzung änderte auch das TV-Duell nichts mehr. Schröders Erfolg vor laufenden Kameras über seine Herausfordererin blieb ein persönlicher - seiner Partei half er nicht mehr.

Den Sieg hat der Kanzler verloren - im Reihenhaus im Zooviertel von Hannover wartet Tochter Victoria. jtj

 Gerhard Schröder: In Siegerpose und vor seinem vermutlich letzten großen Auftritt als erster deutscher Medienkanzler im TV-Duell mit Angela Merkel Fotos (2): Boness / Ipon, pa


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