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10.09.05 / Frau Schwendimann will kämpfen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 10. September 2005

Frau Schwendimann will kämpfen
von Christel Bethke

Als ich heute in die Seniorenresidenz komme, sitzen ihre noch fitten Bewohner draußen vor dem Café Vitalia auf Stühlen im Kreis und machen mit ihren Pflegerinnen Kinderspiele: "Ringlein Ringlein, du mußt wandern" und "Mein rechter Platz ist leer, ich wünsche mir die ... her." Ich werde an meine Kindergartenzeit erinnert, wo dieselben Spiele gespielt wurden. Ist das damit gemeint, wenn es heißt: "Ihr sollt werden wie die Kinder"? Kann ich mir nicht denken.

Wie ich sehe, befindet sich Frau Schwendimann, die ich besuchen will, nicht im Kreis. Ich finde sie auf ihrem Zimmer, tief deprimiert. Sie kann und will sich mit ihrer Situation nicht abfinden. Der Heimvertrag liegt auf ihrem Tisch, ihre Unterschrift fehlt noch. Ihr Blick ist wach, ihre schöne Sprache differenziert, ganz wie immer. Und sie kann noch kämpfen.

Bei einem Sturz hat sie sich mit 86 Jahren ein Knie und ein Schultergelenk schwer verletzt. Auf dem Rück-weg vom Einkauf passierte das Unglück. Ohne noch einmal in ihre Wohnung zu kommen, ging es sofort ins Krankenhaus und nach mehr als zehn Wochen Aufenthalt auf verschiedenen Stationen soll dies hier die letzte sein. Aber sie geht dagegen an, spielt im Kopf alle Möglichkeiten durch. Sie will wieder nach Hause, zurück in ihre Wohnung, zu ihrem drei Meter breiten Bücherschrank, denn, so die Heimleiterin, der könne nicht mitgebracht werden. "Ohne den gehe ich nirgends hin", meint Frau Schwendimann aufsässig.

Die Residenz gleicht im Eingangsbereich dem Foyer eines Drei-Sterne-Hotels. Links ist gleich das Café, überall Sitzgruppen, bequeme Stühle. Das Personal ist "jung und dynamisch", wie der Ersatzdienstler Frau Schwendimann bei ihrer Körperpflege versichert. "Könnte mein Enkel sein", sagt sie zu mir. Wer will das schon, und deshalb griff sie so schnell wie möglich selbst wieder zum Waschlappen. Für ein privates Wort ist keine Zeit und das Zigarettchen kann nur auf die Schnelle gepafft werden. Eisern übt Frau Schwendimann jeden Tag, aus den ersten unsicheren Schritten ist schon ein kleiner Gang geworden; mit dem verletzten Arm macht sie bereits bestimmte Bewegungen. Ich bewundere sie sehr.

"Ist Ihnen aufgefallen", fragt sie mich, "daß es hier gar keine Ausländer gibt?" Ich überlege und muß ihr recht geben, es gibt unter dem Pflegepersonal anscheinend nur Einheimische. "Aber das meine ich nicht", erwidert sie, "unter den Pflegebedürftigen gibt es keine." Ich denke nach und muß verblüfft zugeben, daß ich auch bei Besuchen in anderen Heimen nie ausländische alte Mitbürger gesehen habe. Behalten die ihre Alten bei sich, fragen wir uns. "Das wäre einer Analyse wert", sagt Frau Schwendimann. "Vielleicht kann man was von ihnen lernen. Und überhaupt, muß denn am Ende des Lebens ein Heimplatz der letzte Platz sein? Wie war es denn bei uns? Meine Urgroßmutter starb bei ihrer Tochter, auch der Urgroßvater, also bei meiner Großmutter, die wieder starb bei einer ihrer Töchter, Schwester meiner Mutter, und meine Mutter bei mir, und ich? Wie schafften unsere Vorfahren das alles ohne Pflegestufe und ohne Versicherung. Als ob die Liebe und das Pflichtgefühl seitdem verlorengegangen sind. Ambulante Pflegedienste und Residenzen aller Art schießen wie Pilze aus dem Boden", und, fügt sie hinzu, "es soll 2.500 Euro kosten. 5.000 Mark! Da kann ich ja schon erster Klasse kreuzen!" Sie hat ihren Tiefpunkt überwunden, spüre ich. Sie fragt nach ihrem selbstgezogenen Oleander, den ich seit ihrem Unfall betreue. Den soll und muß sie selbst wieder versorgen, nehmen wir uns vor.

Als sie mich mit ihrem Gehwagen, den sie schon ganz gut handhaben kann, zum Ausgang bringt, sehen wir, daß das Café voll ist. "Es ist Freitag", sagt sie, "damit sie am Wochen-ende frei haben, werden die Alten noch schnell besucht." - "Aber nein", sage ich beruhigend, "so wollen wir nicht denken." Ich verstehe nur allzu gut, daß sie bitter ist.

Draußen sitzen einige alte Frauen nebeneinander in ihren Rollstühlen und blicken stumm vor sich hin, ohne Kontakt zueinander. "So ist das hier", sagte sie, "ich merke es an mir selbst: Wenn ich anfange nachzugeben, daß ich aufhöre zu denken und anfange zu stieren. Nein, ich will hier raus." Ich scherze: "Mein linker Platz ist leer, ich wünsche mir die Schwendi her", denn sie hat die Wohnung gleich neben mir auf der linken Seite. Sie reicht mir ihre gesunde Hand und zieht mich zu sich heran. Ich sage, "alter Kämpfer".

Bei einem meiner ersten Besuche beklagte sie sich, daß man sie nicht nach draußen an die Luft bringe. "Sogar während meiner Haftzeit hatte ich täglich eine halbe Stunde Hofgang und hier ..." Sie hatte mal über ihre Haftzeit mit mir gesprochen, aber das ist eine andere Geschichte.

Gott sei Dank kann sie nun wieder allein an die Luft, und ich hoffe, daß mein linker Platz bald wieder besetzt sein wird. An mir soll es nicht liegen.


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