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17.09.05 / Nei, sag bloß!

© Preußische Allgemeine Zeitung / 17. September 2005

Nei, sag bloß!
von Hildegard Rauschenbach

Mutti, sag mal, weißt du eigentlich, was mit den Urnen geschieht, deren Ruhezeit auf dem Friedhof abgelaufen ist?" fragte Brigitte ihre Mutter, die gerade dabei war, den Hefeteig für ihren allseits beliebten Bienenstich aufzuschlagen. Verdutzt schaute Tita auf. "Na, du stellst vielleicht Fragen! Wie kommst du überhaupt darauf?" - "Na, du sagtest doch neulich, die Grabstelle von Tante Lenchen sei abgelaufen, sie hatte doch eine Urnenbestattung?" - "Ja, das stimmt, und die Urnenstelle ist schon vor einem halben Jahr abgelaufen. Ich habe schon überlegt, ob ich jetzt zum Totensonntag noch einen Grabschmuck hinlegen soll; denn noch ist mit der Stelle nichts geschehen." - "Aber was geschieht denn nun mit der Urne", bohrte Brigitte weiter. "Wird die Asche ausgeschüttet, bevor die Urne auf dem Abfallhaufen landet, oder bleibt sie drin?" - "Iii - das weiß ich doch nu auch nich", antwortete die Mutter, leicht ins Ostpreußische verfallend, denn sie - wie auch ihre Tante Lenchen - stammten aus Ostpreußen. "Vielleicht sollte ich mal bei der Friedhofsverwaltung nachfragen. Das interessiert mich nu auch. Und - Menschenskind - da fällt mir ein: Die Tante Lenchen hatte vor ihrem Tod bestimmt, daß se ihre dicke Bernsteinkette in die Urne jelegt bekommt. Das haben wir denn auch gemacht."

"Na, das ist ja ein Ding" staunte Brigitte. "Dann ist die Kette also noch da drin?" - "Na, sicher doch", meinte ihre Mutter zögerlich und blickte ihre Tochter nachdenklich an. Genauso nachdenklich war auch der Blick ihrer Tochter, die sagte: "Denkst du vielleicht auch, was ich denke, Mutti?" - "Kann schon sein", schmunzelte ihre Mutter. Als dann der Duft des fertig gebackenen, goldgelben Bienenstiches sich in den Räumen des Hauses verteilte, gab es einen Plan - ausgeklügelt bis ins kleinste Detail von Mutter und Tochter ...

Der Totensonntag war schon vorbei, als bei Tita unverhofft ihre Cousine aus Charlottenburg auftauchte. Tita war erfreut, ging in die Küche, um Kaffee zu kochen. Cousine Käthe schaute sich ein wenig im Wohnzimmer um und betrat auch den kleinen Wintergarten. Sie rief zu Tita in die Küche hinüber: "Du hast ja eine neue Errungenschaft. Warst du verreist?" Tita kam zu ihr: "Nein, wieso?" - "Na, da neben den Grünpflanzen auf dem Tischchen die Amphore meine ich, oder ist das eine Deckelvase? Und was soll davor das Foto von Tante Lenchen?" Tita war sehr verlegen, suchte nach Worten: "Ach, ich weiß gar nicht, ob ich dir das sagen soll, Käthchen. Du wirst bestimmt sagen, ich bin e Happche damlich ..." - "Nun sag schon", drängte Käthe, "jetzt bin ich richtig neugierig geworden!" - "Na, wenn du meinst. - Du weißt doch, Tante Lenchens Urnenstelle war abgelaufen, und Brigitte und mir tat es doch so leid, daß die Urne aufem Müllhaufen jeschmissen wird." Tita schwieg und sah Käthe vielsagend an. "Nei - sag bloß!!!" schrie Käthe auf. "Ihr habt doch nicht etwa ...?" - "Doch, haben wir, Brigitte hat mir dabei jeholfen." - "Also ihr kommt auf Ideen", sagte Käthe fassungslos, "aber das bringt Unglück! Wirst sehn!"

"Da is noch was", sagte Tita kleinlaut, "kannst dich erinnern, wir hatten doch - auf Tantchens Wunsch hin - ihre dicke Bernsteinkette inne Urne jelegt. Nu kämpf ich immer mit mir, ob ich mal nachsehn soll. Ich bin all ganz wuschig!"

Brigitte kam von der Arbeit nach Hause und begrüßte die beiden Frauen, die noch vor der Urne standen. Der weiße Angorakater Titus strich um ihre Beine, und Brigitte nahm ihn auf den Arm. Käthe streckte den Arm aus, um ihn zu streicheln - vielleicht etwas zu hastig - Titus sprang erschreckt vom Arm, streifte dabei die Urne, die auf dem Fliesenboden aufschlug, wobei der Deckel aufsprang und die Bernsteinkette, die einen Teil der Asche mit sich nahm, zum Vorschein kam.

Mit blankem Entsetzen in den Augen starrten die drei Frauen auf Tante Lenchens Hinterlassenschaft. Cousine Käthe faßte sich zuerst. Fast flüsternd sagte sie langsam: "Das ist bereits das erste Unglück!" - "Achgott-achgott", jammerte Tita, "was wird nich noch alles passieren, auf was haben wir uns da bloß einjelassen, Brigitte! Und denkt mal, wenn das im Wohnzimmer passiert wär'! Auf dem hellen Velours hätte ich doch nie bis aufs letzte die Asche rausgekricht und müßd immer auf de Tante Lenche rumtrampeln!" Heulend holte sie Handfeger und Schippe und beförderte die Asche wieder in die Urne. Die Bernsteinkette aber hing sie um Tante Lenchens Foto.

"Wo ist eigentlich Titus abgeblieben?" fragte Brigitte und sah sich suchend um. "Na, der schoß doch vorhin wie ein Blitz gleich zur Tür raus. Vielleicht ist er noch im Garten", sagte Käthe. Brigitte ging auf die Terrasse und rief nach Titus. Ein klägliches Miauzen antwortete ihr. Da - unterhalb der Terrasse, in einem der Rosenbüsche, saß ihr Titus in seinem prächtigen Angorapelz, die Dornen hatten ihn fest im Griff, er konnte nicht vor und nicht zurück. Da konnte nur eine Schere helfen, die Tita sofort brachte, und Stück für Stück seines gepflegten Felles mußte das Katerchen der Schere

opfern. "Ganz zerpliesert sieht er nu aus", bedauerte Tita das Tierchen. Ihre Tochter streichelte und tröstete ihren Titus, und Cousine Käthe sagte mit ihrer tiefen rauchigen Stimme: "Das ist das zweite Unglück! Und was sagt ein Sprichwort? Aller guten Dinge sind drei!"

"Erbarmung, Käthe, sag so was nicht, mal' nich den Deiwel anne Wand!" rief Tita und knetete hilflos ihre Hände.

Weihnachten war längst vergessen, der Schnee bereits geschmolzen, einige Schneeglöckchen hatten schon ihre Kelche geöffnet, und einige Krokusse, Narzissen und Tulpen wagten sich hervor. Tita stand auf der etwas erhöhten Terrasse und freute sich über die ersten Frühlingsboten. Mit ein wenig Wehmut erinnerte sie sich an Tante Lenchens Blumenbeete in Ostpreußen, auf denen in dieser Jahreszeit Tulpen und Narzissen prächtig zu blühen anfingen, im Sommer Levkojen und Löwenmaul, lieblich duftende Reseda und Schleifenblumen zu bewundern waren, und dann im Spätsommer Astern in allen Farben leuchteten.

"Ach ja", seufzte Tita, "könnt' alles so schön sein. - Nu hat meine Brigitte noch son lieben Mann jefunden. Ich glaub', de Hochzeitsglocken werden bald läuten, und v'leicht kriej ich noch ein Enkelchen - ach ja, könnt' alles so schön sein. Wenn bloß nich immer de Tante Lenche ihre Asche in meinem Kopp rumspuken würde."

Und - plötzlich kam ihr eine Idee! Emsig holte sie ein paar Blumenkästen aus dem Keller und stellte sie an einen sonnigen, windgeschützten Platz auf die Terrasse. Am nächsten Tag besorgte sie neue Blumenerde und verteilte sie in den Kästen. Dann holte Tita die Urne, öffnete sie und mischte löffelweise Tante Lenchens Asche unter die Erde. Mehrere Päckchen Blumensamen, die sie mit Bedacht ausgewählt hatte, verteilte sie auf die fünf Kästen.

Sie vergaß auch nicht ein kleines Kreuz in jeder Ecke zu zeichnen, wie ihr Vater dereinst mit einer Handvoll Roggen vor der Aussaat jedesmal ein Kreuz am Anfang des Ackers gestreut hatte.

Anfang Juni dann, nach dem Abblühen der Frühlingsblumen, versetzte Tita die kräftig gewordenen jungen Pflanzen auf die Beete und streute - Hand für Hand - die mit Tante Lenchens Asche "veredelte" Erde um die Pflänzchen. Bereits im Juli blühten prächtige Löwenmaul und Levkojen, Schleifenblumen. Die Reseda verströmte ihren lieblichen Duft - wie einst in Tante Lenchens Gärtchen in Ostpreußen.

Tita stand vor dem Beet und sah die Blütenpracht. Leise sprach sie: "Mein Tantchen, nun bist du nicht unter Unrat oder einfach in der Erde vergraben. Du ruhst bei deinen geliebten Blumen - und meine Hände werden sie immer pflegen und manchmal auch ein wenig streicheln."

In Auszügen entnommen aus "Hildegard Rauschenbach: Marjellchen plachandert wieder", Rautenberg im Verlagshaus Würzburg, 2005.

Ruhe in Frieden: Ein Engel gibt letztes Geleit Foto: Keramikparadies


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