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24.09.05 / Die Leere nach der Wahl

© Preußische Allgemeine Zeitung / 24. September 2005

Die Leere nach der Wahl
von Joachim Tjaden

Deutschland hat gewählt. Doch hat der Souverän sich selbst bewegt - und hat er wirklich etwas bewegt? Nie zuvor seit Gründung der Bundesrepublik war eine Regierungsbildung so schwierig. Politische Farbenlehre scheint Staatsräson zu verdrängen. Schlimmer noch: Der unter annähernd obskuren Begleiterscheinungen zustande gekommene Urnengang brachte statt Befreiung aus Lähmung den größten anzunehmenden demokratischen Unfall - instabile Verhältnisse. Schon macht sich auf dem alten Kontinent Sorge breit: "Ohne ein dynamisches Deutschland kann sich Europa nicht erholen", kommentierte der Präsident der EU-Kommission Barroso. Eine Wahl, die zum Aufbruch werden sollte, mündete in Krisenmanagement. Dies ist ihre Bilanz über den Tag hinaus:

• Die SPD ist stärkste Partei, die Union stellt die größte Fraktion. Letzterer den Auftrag zur Regierungsbildung abzusprechen, wie es der amtierende Bundeskanzler am Wahlabend tat, hieße die Ausschaltung der Spielregeln der parlamentarischen Demokratie. Gerhard Schröder hat die Neuwahl im Alleingang betrieben: mit einem Mißtrauensvotum, das ein konstruiertes und kein konstruktives war, flankiert von einem Präsidenten, dem es an Mut fehlte, ihm in die Parade zu fahren, und einem Verfassungsgericht, das sich fügte, statt zu hinterfragen. Schröder hat das Land ein Stück weit näher an eine Kanzlerdemokratie geführt, die die Väter des Grundgesetzes nicht vorgesehen hatten. Und er, der 2002 mit 6000 Wählerstimmen Vorsprung Kanzler bleiben durfte, mag nun in 440000 Stimmen Unionsvorsprung kein Regierungsmandat mehr erkennen - damit ist die politische Restkultur die größte Wahlverliererin.

• Deutschland ist seit dem 18. September 2005 wieder ein geteiltes Land. Die Reformer und Modernisierer stehen unverrückbaren Beharrungskräften gegenüber. Am Ende blockierte der heilige St. Florian: Schneide in meines Nachbarn soziales Netz und verschone mein eigenes Haus. Bittere Erkenntnis: das Wahlvolk im Land der 1,5 Billionen Euro Staatsschulden war längst noch nicht so weit, wie die Realpolitiker es wähnten. Solange Schröder den eisernen Reformkanzler gab, liefen ihm die Wähler davon - als er vor der Neuwahl unhaltbare Versprechungen von Lohnzuwächsen machte und die Karte Sozialromantik spielte, kehrten sie zu ihm zurück. Indem die Union dies verkannte und nicht gegensteuerte, offenbarte sie ihr in Jahren gewachsenes größtes Defizit: das Fehlen von Instinktpolitikern.

• Die ambitionierte Angela Merkel sprach im Wahlkampf den Verstand der Menschen an, ihre Herzen erreichte sie nicht. Unabhängig vom Ausgang jedweder Koalitionsverhandlungen bleibt die persönliche Tragik, daß die Frau aus dem Osten in ihrer Heimat scheiterte. Nur 25 Prozent der Bürger in den neuen Bundesländern gaben der CDU ihre Stimme: Wie blauäugig waren eigentlich die Unions-Wahlkampfstrategen, daß sie annehmen konnten, Schönbohms Tiraden über die DDR-Sozialisation und Stoibers Entgleisung über die Frustrierten würden als Fauxpas und nicht als Beleidigung nachwirken? Wahlen werden immer noch über Emotionalität entschieden - daß die Partei der Einheit dies vergaß, war kein Zeugnis von Reife. Gab es wirklich niemanden, der Angela Merkel daran erinnern konnte, daß die CDU die Erfinderin der sozialen Marktwirtschaft und nicht die Begründerin der sozialen Kühle ist? Oder wollte sie niemand daran erinnern? Dann aber hätte der 18. September für alle Zeiten manifestiert, daß die Union vor allem ein Forum für Illoyalitäten ist. Reichlich Nahrung für diese Annahme lieferten die Ministerpräsidenten Wulff, Beust und Carstensen, die vier Tage vor der Entscheidung öffentlich über Fehler im Wahlkampf räsonnierten. So gesehen erhielten CDU und CSU letztlich das Ergebnis, das sie sich selbst verdienten: das schlechteste seit 1949.

• Es gilt Abschied zu nehmen von der Allzeit-Legende der die Geschicke des Landes bestimmenden Volksparteien. Union wie SPD konnten, jede für sich, nicht einmal 40 Prozent der Wahlbürger auf sich vereinen - zusammen blieben sie erstmals unter 70 Prozent. So wie die Chimäre Linkspartei der Sozialdemokratie Klientel stahl, so kannibalisierte sich das bürgerliche Lager: 1,1 Millionen Unionsanhänger liefen zur FDP über; Wählerwanderungen in Richtung Unregierbarkeit.

• Politik und Medien, die einander bedingen und bedienen, haben in ihren Verantwortungen versagt. In dem Maße, in dem sie zum zweiten Mal seit 2002 eine Richtungswahl auf ein reines Personenduell nach amerikanischer Schablone verengten, vergaßen beide vorsätzlich, Inhalte zu erklären und steigerten damit wissentlich jene Politikverdrossenheit, die sie nur allzu gerne beklagen. Die Quoten stiegen, die Wahlbeteiligung sank.

• Der Deutschen Wechselstimmung ist nicht mehr beherrschbar und die Demoskopie nur eine Pseudowissenschaft. Binnen eines halben Jahres schmolz der in Umfragen ermittelte Vorsprung von CDU/CSU um fast 20 Prozentpunkte. Fast schon irrational wirkt, daß die SPD mit Nordrhein-Westfalen ausgerechnet jenes Bundesland zurückeroberte, mit dessen Verlust am 22. Mai die Neuwahl ihren Anfang nahm. Selbst Bayern wankte: die CSU verlor fast 800000 Wähler und stürzte unter 50 Prozent - gleichsam ein Erdrutsch, Quittung auch für Stoibers Hinhaltetaktik in der Frage aktiver Mitarbeit in Berlin. Und wieder sinkt ein Stern.

• Ein weiteres Dilemma der deutschen Politik trat auf fast schon schmerzliche Weise zu Tage: Es fehlt an Sozialpolitikern, die gleichermaßen aktuell wie visionär zu arbeiten verstehen. War es schon kein Zeichen eines parteiinternen personellen Überangebotes, daß Merkel auf Kirchhof zurückgreifen mußte, so offenbarte die Art und Weise, wie die Union mit ihm umging, nachgerade Schäbigkeit. Kirchhof, der mit Steuermodell und Subventionsabbau weiterführende Diskussionen anstoßen wollte, fiel im "friendly fire" der Unions-Heckenschützen. Dieses Lehrstück enthüllte, daß Parteikarrieristen Sachverstand von außen noch immer als Bedrohung empfinden.

• Noch selten hat die Bundesrepublik eine Wahl im Zeichen so deutlicher Festlegungen erlebt. Alle Parteien kamen apodiktisch daher und versprachen Ehrlichkeit statt Umfallertum: Die SPD lehnte die Linkspartei ab, die Union die große Koalition, die FDP die Ampel, die Grünen erklärten "Wenn nicht Rotgrün, dann Opposition". Nun sind sie alle Gefangene eigener Ausgrenzungen. Denn das ist die überragendste Erkenntnis dieser Bundestagswahl, an deren Ende über 60 Prozent der Deutschen sagten, sie seien mit ihrem Ergebnis unzufrieden und für die Zukunft besorgter als vorher: Während die Politiker den Wählern neues Denken abverlangten, verharrten sie selber in ihren tradierten Lagerbildern. Die Parteien und ihre Wähler sind offenkundig nicht mehr kompatibel. So gesehen kommen die Lehren aus der Wahl als Leere nach der Wahl daher.

Einst rüttelte er am Zaun des Kanzleramtes und wollte rein - jetzt will er nicht mehr raus: Gerhard Schröder vor seinem Amtsitz in Berlin Fotomontage: vario-press


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