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24.09.05 / Ein Sekundchen noch

© Preußische Allgemeine Zeitung / 24. September 2005

Ein Sekundchen noch
von Elli Kobbert-Klumbies

Beide waren in Schweiß gebadet, als Gustav Karscheit im Jahre 1899 auf dem Hinterroßgarten geboren wurde, seine Mutter und auch die Hebamme. "Gleich - gleich haben wir's - noch ein Sekundchen - ein einziges Sekundchen nur noch, dann haben wir das Kind." Die letzten Sekundchen hatten sich aber so in die Länge gezogen, daß Mutter Karscheit später zu sagen pflegte: "Ja, seht ihn euch nur an. Der wollte bleiben, wo er war. Hätte die Hebamme ihn nicht zuletzt beim Schlafittchen gepackt, dann wäre er jetzt noch nicht auf der Welt, der Dremmeljan."

Es wurde auch mit den Jahren nicht besser. "Gustav - was stehst am Fenster! Komm, Opa hat Geburtstag. Bestimmt hat die Oma Glumstorte gebacken." - "Ja, Mama, ein Sekundchen noch", und Gustav blieb mit der Nase an der Fensterscheibe und sah verträumt den segelnden Schneeflocken nach. So vertieft, daß das Wort Glumstorte keine bildhafte Vorstellung in ihm wachzurufen vermochte.

"Also los - los!" rief der Lehrer in der Schule. "Antworte, Gustav! Wenn die Mutter zwei Flundern brät und drei Leute sollen davon essen, wieviel bekommt jeder?" - "Ja", sagte Gustav. "Ja, zwei Flundern. Ein Sekundchen noch, Herr Lehrer ..." Gustav sah die Flundern vor sich. Er roch sie. Er bekam großen Appetit auf sie.

Zwei Flundern, hatte der Lehrer gesagt. Auf Mutters Flinsenpfanne hatte nur eine große Flunder Platz. Die erste bekam immer der Vater. Dann saß aber er, Gustav, immer schon am Tisch und beobachtete, wie die Mutter die zweite Flunder ins aufspritzende Fett legte. Diese zweite war für ihn. "Ein Sekundchen noch, Herr Lehrer", bat Gustav freundlich und lächelte. Es dauerte nie lange, bis die zweite Flunder fertig war. Und Mutter? Mutter kriegte die dritte. Sie kaufte immer drei Flundern. Zwei reichen doch nicht für drei Leute. Sagte der Lehrer zwei? Die Schule ist bloß dafür da, daß alles schwerer wird, was sonst einfach ist.

Nach der Schule wurde Gustav zum Kneiphof in die Lehre geschickt. Auf seinem allmorgendlichen Weg vom Roßgarten bis zur Kneiphöfschen Langgasse verbrachte er stets sein Sekundchen auf der Pregelbrücke und bewunderte die Manöver der langen Kähne. Kein Wunder, daß dem gereizten Meister der Geduldsfaden riß. Er empfing Gustav mit einer Ohrfeige, die den Jungen vorübergehend aus seiner weltfremden Zeitrechnung aufstöberte.

Gustav kam nicht drumherum, auch er mußte beim Militär einrükken. Man hatte ihm manches vorher erzählt, aber es wurde noch schlimmer. Sein Sekundchen, von dem er nicht lassen konnte, trug ihm Latrinenwischen oder peinliche Sonderbehandlungen ein. Nirgends wurde seine Treue zum schönen Augenblick so wenig verstanden wie dort. Als er mit seinem Pappkarton wieder vor seiner Mutter stand, glaubte er, die größten Leiden dieser Welt durchkostet und nunmehr hinter sich gebracht zu haben. Endlich würde das richtige Leben des Gustav Karscheit beginnen!

Was eine gute Mutter ist, die sorgt rechtzeitig vor. Zwei Mädel saßen zu seinem Empfang bei Mutter Karscheit auf dem Sofa. Ruth und Alwine, nette Fräulein aus der weiteren Bekanntschaft. Sie lächelten, und Gustav lächelte verschmitzt zurück. Das Tor zum Leben stand weit offen, und die freie Auswahl in punkto Liebe war zum Greifen nahe.

Die Entscheidung fiel schwer. An so manchem Sonnabendnachmittag radelte Gustav nach Juditten und traf sich mit Ruth am dicken Wurzelbaum. Doch sonntags hockte er meist bei der viel kesseren Alwine, deren Eltern zum Schrebergarten gegangen waren. "So geht das nicht, Gustav", sagte die Mutter. "Die eine oder die andere. Die Ruth paßt, die versteht dich besser. Alwine ist zu kiewig. Mach Schluß mit Alwine."

"Ja, Mama, ja, noch ein Sekundchen, wart nur noch ein Sekundchen, ich denk ja auch schon dauernd, die Ruth, die ist die Richtige. Ich glaub, ich weiß schon, wie ich mich entscheiden werd." Doch die Entscheidung fällten weder Mutter Karscheit noch Gustav. Die Entscheidung fällte das Sekundchen.

Als Gustav am nächsten Sonntag Alwine besuchte, dachte er nur an Ruth. Er war glücklich, denn sie hatte sich zum erstenmal von ihm im Juditter Wald küssen lassen. Noch ganz taumelig von dem Erlebnis, war er nun netter zu Alwine als sonst. Er neckte sie und ließ sich lachend verwöhnen, wischte ihr die Krümel vom Streuselkuchen vom Mund und dachte dabei nur an Ruths rote Lippen. Alwine tat ihm leid, sie gab sich soviel Mühe, aber er war nun zum letztenmal bei ihr. Beim Gehen wollte er es ihr sagen.

So sehr leid tat sie ihm, daß er nach ihrer Schulter und nach ihrem Haar griff. Er schob das Weggehen immer wieder auf, denn auch er selbst tat sich leid. Wenn er sich nun ganz auf Ruth verlegte, mußte er ihr Alwines Liebe endgültig zum Opfer bringen. Schließlich zog er Alwine in wehmütiger Aufregung an sich. Scheiden tut weh.

"Noch ein Sekundchen", bettelte Gustav. "Nur noch ein einziges Sekundchen." Alwine überschätzte den Grund seiner Erregung. Sie kam gar nicht darauf, nein zu sagen. Im Gegenteil, sie kam ihm entgegen.

Drei Monate später wurden Alwine und Gustav überstürzt getraut. Und es nutzte Gustav nichts, daß er nie wieder im Leben vom "Sekundchen" sprach und diesem Wort grollte, seit es sich so jäh als Macht des Schicksals entpuppt hatte. Gustav hatte nichts mehr zu lachen. Der Traum von Ruth war ausgeträumt. Alwine wurde Mutter von sieben Kindern und scheuchte Gustav ans Arbeiten, daß ihm Hören und Sehen verging. Er hatte nichts mehr zu melden.

Wenn Oma Karscheit zu Besuch kam, kannte sie ihren Sohn nicht wieder. Aus einem freundlichen Träumer war ein Pantoffelheld mit ängstlichem, gehetztem Blick geworden. "Was ist, Gustavchen? Was ist? Laß dich doch nicht kujonieren! Früher warst anders. Weißt noch? Glück-lich warst. Sagtest immer: Ja, Mama, noch ein Sekundchen, noch ein ..." - "Wirst still sein! Wirst endlich aufhörn damit!" schrie Gustav wild. Er rannte davon. In die Wirtschaft. Alwine schmiß den Wäschekorb hin, rannte hinterdrein und holte den Flüchtling postwendend unter lautem Spektakel zurück.

Mit 50 Jahren war Gustav Witwer. Er ging demütig zum Pfarrer. "Ich brauch 'ne Mutter für die Kinder. Vielleicht kann der Herr Pfarrer mir helfen?"- "Na, wissen Sie", gutmütig lachte der alte Herr, dem der dramatische Lebenslauf des Sekundchen-Gustav gut bekannt war. "Na, wissen Sie, Herr Karscheit, es scheint mir ein langer Weg zu sein bis zur Erkenntnis, daß wir mit unseren menschlichen Sekundchen dem lieben Gott manchmal seine großen Stunden vermurksen."

Gustav schüttelte den Kopf. "Die Erkenntnis, Herr Pfarrer, die Erkenntnis hatt ich sofort. Aber das mit dem langen Weg - das wird einem trotzdem nicht erspart. - Ich dachte nun, ich dachte, wenn Sie sich meinetwegen mit jemandem in Verbindung setzen möchten - sie heißt Ruth - ich hab die Adresse noch - vielleicht ..."

"Meinen Sie, die wär noch frei? Meinen Sie, diese Ruth belohnt einen, der die große Stunde nicht abwarten konnte?" - "Belohnen? Erbarmen, Herr Pfarrer! Nur erbarmen soll sie sich. Die Ruth tut das, wenn sie das noch kann."

Vier Wochen später mußte Gustav staunen. Die Stube war aufgeräumt, als er von der Arbeit kam. Essen stand auf dem Tisch. Auf einem Stuhl saß Ruth, umringt von den Kleinsten, und knöpfte dem zweijährigen Horstchen grad die Hose fest. Beschämt zog Gustav die neue Mutter ans Herz. Er wußte nun gut um den himmelweiten Unterschied zwischen unbekömmlichen Sekundchen, die sich nur rächen, und den großen Stunden, die Segen bringen. Denn während die Sekundchen gestohlen sind, werden einem die großen Stunden immer nur unverdient geschenkt.

 Beim Flundernräuchern: Oftmals gab's lustige Ansichten, wie hier beim Füllen des Räucherkastens Foto: Hallensleben


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