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01.10.05 / "Wir haben von alle dem nichts gewußt" / Fernsehreihe dokumentiert die Entwicklung dreier Orte, nachdem ihre deutschen Bewohner vertrieben worden waren

© Preußische Allgemeine Zeitung / 01. Oktober 2005

"Wir haben von alle dem nichts gewußt"
Fernsehreihe dokumentiert die Entwicklung dreier Orte, nachdem ihre deutschen Bewohner vertrieben worden waren

Ostpreußenthemen erhalten in diesem Herbst 60 Jahre nach "Flucht und Vertreibung" eine mediale Aufmerksamkeit wie kaum zuvor. Phoenix zeigte die "letzten Königsberger in Kaliningrad", der Norddeutsche Rundfunk "Ostpreußens Wälder". Auch wenn manche Beiträge, wie unlängst in der "Zeit", noch unter der Überschrift "Befreiung" die grausamen letzten Kriegstage bearbeiten, fällt der überwiegend unideologisch-neugierige Ton neuerer Dokumentationen angenehm auf.

So auch die neue dreiteilige Reihe "Als die Deutschen weg waren" im Westdeutschen Rundfunk (WDR). Zum Auftakt der Dokumentationsserie über die Vertreibung der Deutschen und die Folgen zeigt der WDR am 3. Oktober, 20.15 Uhr, beispielhaft für Ostpreußen das Schicksal des Ortes Tollmingkehmen nahe der Rominter Heide. Der Autor, des 45minütigen Films, Christian Schulz, stellt mit seiner Leipziger Produktionsgesellschaft "le vision" Beiträge für die ARD her, so "Soko Leipzig" sowie die dreiteilige Dokumentationsreihe "Die 20er Jahre". Sie startet am 10. Oktober (ARD). Die Beiträge zu "Soko Leipzig" wurden jüngst für den Deutschen Fernsehpreis ("Beste Serie") nominiert.

Die Folgen der Serie "Als die Deutschen weg waren" sollen programmatisch Fragen nach den Gefühlen von Besatzern und Besetzten stellen. Hab und Gut, Umgang der neuen Bewohner "mit der Vergangenheit des fremden Ortes", Schick-sal in Flucht und Vertreibung sollen bewußt dargestellt werden. Brisantes soll zur Sprache kommen: "Wie erging es den Deutschen, die sich weigerten zu gehen und sich gezwungen sahen, Tschechen oder Polen zu werden?". Bewußt auf die Fragen der jungen Generation in Polen, Tschechien und im russisch verwalteten Königsberger Gebiet verspricht die Serie einzugehen. Ihnen sei "nie die Wahrheit gesagt worden", heißt es in der Ankündigung des WDR. Dieser Ansatz "das unerledigte historische Gepäck" aus der Blickrichtung von "Flüchtlingen, Angesiedelten, und Dagebliebenen" anzupacken, ist neu und weist zugleich über die Folgen der Vertreibung hinaus.

Das Kirchdorf Tollmingkehmen, 20 Kilometer von der Grenze zu Litauen entfernt, wurde im 16. Jahrhundert gegründet. Größere Bekannhteit erlangte der kleine Ort durch den von 1743 bis 1780 dort tätigen Pfarrer Christian Doneleitis, dem ersten klassischen Dichter in litauischer Sprache. Über ein Jahrhundert später wurde Tolmingkehmen ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. 1901 wurde die Linie Stallupönen-Goldap eröffnet, 1907 die Linie Gumbinnen-Szittkehmen. Im Oktober 1944 beginnt jedoch das Ende des deutsch-litauisch geprägten Ortes. Das Dorf wird evakuiert. Russische Truppen besetzen das von Deutschen verlassene Dorf - "es ist der Anfang vom Ende des alten Ostpreußen", wie der Beitrag bemerkt. Er geht Fragen nach, "die bis heute im deutschen Fernsehen nicht gestellt wurden", so die selbstkritische Ankündigung. Als die Rote Armee Tollmingkehmen einnimmt, will die politische Führung in Moskau das nördliche Ostpreußen nie wieder hergeben, beginnt umgehend, es zu einem sowjetischen Musterland umzubauen. Sofort wird das deutsche Eisenbahnnetz herausgerissen und durch neue Schienen mit russischer Spurbreite ersetzt - die Rominter Heide wird mit ihren mächtigen alten Kiefern dabei fast vernichtet. Nichts soll an deutsche Tradition und Geschichte erinnern. Ein beispielloses Experiment beginnt, eine "tabula rasa", mit neuen Menschen, die die entvölkerte Gegend besiedeln sollen. Tollmingkehmen wird wie alle Orte umbenannt; die Russen nennen es "Tschistye Prudy".

Die Sowjetunion schickt bis Mitte der 50er Jahre fast 190000 Neusiedler in die Region, darunter viele, denen der Krieg Haus, Heimat und Familie genommen hat und die hier neu anfangen wollen. Ganze Familien werden in der Sowjetunion angeworben, das neue Land im Westen unter den Pflug zu nehmen. Der ostpreußischen Kulturlandschaft wird das sowjetische System übergestülpt - kollektivierte Landwirtschaft, Aussaat und Ernte nach Plan, ohne Kenntnisse der Klima- und Bodenverhältnisse. Dabei geschehen folgenreiche Fehler - man pflügt beispielsweise zu tief und zerschneidet das für die Landwirtschaft Ostpreußens unverzichtbare Drainagesystem. Vieles wird zerstört, weil die sowjetischen Neusiedler die hinterlassene kleinteilige Technik der Deutschen nicht kennen, nicht bedienen und warten können.

Die Dokumentation erzählt am Schicksal eines Dorfes die Verwandlung des nördlichen Ostpreußens in das Königsberger Gebiet. Ehemalige Bewohner des deutschen Ortes Tollmingkehmen erinnern sich in dieser ersten Folge der Dokumentationsreihe, wie es vor dem Krieg dort aussah, und berichten, wie sie die ersten Nachkriegsmonate unter sowjetischer Besatzung erlebten, bevor sie vertrieben wurden. Erstmals erzählen russische Zeitzeugen von ihrer Neuansiedlung in diesem ostpreußischen Ort: Über ihre ersten Eindrücke, ihre Schwierigkeiten in den ersten Hungerjahren mit der Landwirtschaft und der Versorgung. Und nicht zuletzt über die systematische Vernichtung deutscher Traditionen und Wurzeln vor Ort. Und wie schwer es war, hier eine neue Heimat zu finden. Zahlreiche Dokumente aus russischen Archiven, die teilweise auf der Rückseite sogar in deutscher Sprache beschrieben sind, belegen minutiös die entscheidenden Momente, Beweggründe und politischen Maßnahmen der Sowjetisierung einer deutschen Kulturlandschaft.

Der zweite Teil von "Als die Deutschen weg waren" zu Groß Döbern in Schlesien wird Freitag, 7. Oktober, um 20.15 Uhr im WDR ausgestrahlt, der dritte Teil zu Gablonz im Sudetenland am 14. Oktober um 20.15 Uhr (WDR). Zudem hat ein siebenköpfiges Team von deutschen, polnischen, russischen und tschechischen Autoren um die bei den Ostpreußen schon durch zahlreiche Veröffentlichungen bekannte Autorin Ulla Lachauer und den Warschauer Historiker Wlodzimierz Borodziej parallel zur Fernsehserie das Buch "Als die Deutschen weg waren" (rowohlt, Berlin 2005, 320 Seiten, 19,90 Euro; zu beziehen über den PMD, Telefon 0 40 / 41 40 08-27) verfaßt, das bisher unveröffentlichtes Material enthält. SV

Dem Verfall preisgegeben: Das Gutshaus der Familie Rothes im ostpreußischen Tollmingkehmen Foto: rowohlt, Buch zur Serie (Foto)


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