19.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
08.10.05 / Eine ganze Nation freut sich / Vor 50 Jahren kehrten die letzten zehntausend Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion nach Deutschland zurück

© Preußische Allgemeine Zeitung / 08. Oktober 2005

Eine ganze Nation freut sich
Vor 50 Jahren kehrten die letzten zehntausend Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion nach Deutschland zurück
von Clemens Range

Es war einer der bewegendsten Freitage in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland - der 7. Oktober 1955: Als an diesem Tag der erste aus Güterwaggons bestehende Zug mit den "letzten 10000" deutschen Kriegsgefangenen in Herleshausen eintraf, war dies für die damals erst sechs Jahre bestehende Bonner Republik der wohl emotionalste Augenblick in der Nachkriegsgeschichte. Am kommenden Mittwoch findet anläßlich der 50. Wiederkehr dieses Ereignisses im Beisein von Bundespräsident Horst Köhler im einstigen Grenzdurchgangslager Friedland eine Gedenkveranstaltung der Spätheimkehrer und ihrer Angehörigen statt.

Nachdem die Wehrmacht am 8. Mai 1945 kapituliert hatte, befanden sich etwa zehn Millionen deutsche Soldaten in Kriegsgefangenenlagern der Siegermächte. Bis 1948 kehrten die letzten Soldaten aus den Lagern der westlichen Alliierten heim. 1949 erklärte der sowjetische Diktator Josef Stalin, daß die Rückführung aller deutscher Kriegsgefangener abgeschlossen sei. Doch tatsächlich befanden sich noch etwa 35000 Kriegsgefangene, Soldaten, Frauen und Jugendliche in Zwangsarbeitslagern in den unwirtlichen Weiten Rußlands. Die Gefangenen waren unter erdachten Anschuldigungen in kurzen Schauprozessen meist zu 15 oder 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden und galten als "Kriegsverbrecher". Moskau hatte somit ein Faustpfand in der Hand.

Die unschuldig von Moskau zurückgehaltenen, versklavten Menschen verwandelten im Laufe der Jahre die westdeutsche Heimat in eine Gemeinschaft, möglichst schnell die letzten Heimkehrer in den aufblühenden Wohlfahrtsstaat zurückzuholen und zu integrieren. Die Deutschen wurden von den Medien aufgefordert, sich an der Kriegsgefangenenhilfe der Wohlfahrtsverbände, den "Liebesgaben" - wie die Päckchen in die Gefangenenlager genannt wurden - zu beteiligen oder Geld zu spenden. Es gab kaum jemanden, der sich dieser Bitte entzog.

In Mitteldeutschland, der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), hingegen wurde nach 1949 offiziell so getan, als seien alle Kriegsgefangenen aus der UdSSR heimgekehrt und Moskau inhaftiere nur noch "Kriegsverbrecher". Das empörte nicht nur die Menschen im Westen, sondern auch den Bürgern in der DDR war klar, daß diese offizielle Sprachregelung eine Lüge darstellte. Doch selbst der Tod Stalins 1953 änderte nichts an dem Schicksal der deutschen Gefangenen.

Erst im September 1955 kam dann Bewegung in die Kriegsgefangenen-Frage. Die Kremlführung unter Nikita Chruschtschow hatte überraschend die Bundesregierung in Bonn zu Gesprächen nach Moskau eingeladen. Bundeskanzler Konrad Adenauer reagierte zögerlich, zog die SPD-Opposition mit ins Vertrauen und entschloß sich schließlich, zu Verhandlungen in die UdSSR zu fliegen. Die Moskaureise von Adenauer sollte zu den spektakulärsten Ereignissen in dessen 14jähriger Amtszeit werden.

Sieben Tage - vom 7. bis 14. September 1955 - rangen Adenauer und Chruschtschow um gemeinsame Positionen. Die Gespräche drohten zu scheitern. Adenauer forderte demonstrativ die Lufthansa-Maschine für den Rückflug an. Erst jetzt lenkten die Sowjets ein. Der Durchbruch kam beim Bankett. Ministerpräsident Nikolaj Bulganin nahm Adenauer beiseite. Adenauer machte ihm deutlich, daß ohne die Freigabe der Kriegsgefangenen und Zivilinternierten "eine Normalisierung der Beziehungen der deutschen Öffentlichkeit nicht zugemutet werden" könne. Plötzlich lenkte Bulganin ein und sagte: "Schreiben Sie mir einen Brief, und wir geben sie Ihnen alle - alle! Wir geben Ihnen unser Ehrenwort!"

Adenauers Begleiter rieten dem Kanzler ab, sich darauf einzulassen. Doch Adenauer verließ sich auf die Zusage. Dann stand fest: Die Bundesrepublik nimmt mit der Sowjetunion diplomatische Beziehungen auf und verstößt damit gegen die von ihr verfochtene Hallstein-Doktrin. Im Gegenzug läßt die UdSSR 9626 deutsche Gefangene frei.

In der Bundesrepublik schlug diese Meldung wie eine Bombe ein. Der "Alte", wie Adenauer genannt wurde, hatte die "Heimholung" der letzten Kriegsgefangenen geschafft. Das Thema Gefangenschaft war seit Jahren in allen deutschen Haushalten präsent. Millionen kannten das Gefühl des Bangens und Hoffens aus eigenem Erleben. Und noch immer warteten zehn Jahre nach Kriegsende Mütter auf ihre Söhne, Frauen auf ihre Männer, Kinder auf ihre Väter. Hunderttausende, die über ihre Angehörigen die Nachricht "vermißt" erhalten hatten, begannen neuerlich zu hoffen.

Doch es sollten noch Wochen der Ungewißheit und des Wartens folgen. Unter den letzten "Zehntausend" waren Generale, Offiziere und ehemalige Hitlerjungen, Diplomaten, technische Spezialisten, tatsächliche Kriegsverbrecher und einfache Soldaten, Wehrmachthelferinnen und Krankenschwestern, aber auch Männer, die nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 in Mitteldeutschland in die UdSSR verschleppt worden waren. Manche von ihnen hatten eine zwölfjährige Odyssee durch sowjetische Lager durchlitten.

Dann, am 7. Oktober 1955 war es endlich soweit: Der erste Heimkehrer-Transport aus Rußland rollte gen Westen. Als ausgemergelte Gestalten, aber häufig im Geist ungebrochen, saßen sie in Güterwaggons. Als sie die Oder bei Frankfurt überquerten, sangen sie das Deutschlandlied - natürlich die erste Strophe, denn eine andere Variante kannten sie nicht. Auf Bettlaken hatten sie mit Schuhwichse die Worte "Freiheit sind des Glückes Unterpfand" geschrieben und an ihre Waggons geheftet. Mit Fäusten verteidigten sie ihre Transparente gegen Angriffe der DDR-Staatsorgane.

Von Herleshausen an der innerdeutschen Grenze an fuhren die Spätheimkehrer mit Omnibussen über das nordhessische Eschwege in Richtung Friedland. Es wurde eine Fahrt des Triumphes der Gefühle. Die Strecke wurde von der Bevölkerung "Straße der frohen Herzen" genannt. Menschenmassen säumten die Straßen, durch die sich im Schrittempo die blumengeschmückten Busse schoben. Aus ihnen winkten unter Freudentränen blasse Frauen und abgemergelte Männer. Viele von ihnen trugen graue russische Wattejacken und Stiefel - manche waren mit Trainingsjacken und mittlerweile durchgelaufenen Turnschuhen bekleidet, die ihnen aus der Heimat geschickt worden waren.

Die Freude über die Ankunft der ersten Spätheimkehrer im Aufnahmelager Friedland erfaßte nicht nur die betroffenen Familien - eine ganze Nation freute sich. Von nun an kamen immer mehr Transporte mit Spätheimkehrern in Friedland an. Die letzten Gefangenen kehrten jedoch erst im Januar 1956 aus der Sowjetunion zurück. Indes: Für etwa 1,3 Millionen deutsche Gefangene gab es keine Rückkehr aus den Lagern Rußlands: Sie starben an Hunger, Kälte und Erschöpfung.

Ankunft in der Bundesrepublik 1955: Tausende empfangen die Spätheimkehrer auf dem Bahnhof Herleshausen Foto: Ullstein

Der sowjetische Ministerpräsident Bulganin (v. l.), Bundeskanzler Adenauer und Kremlchef Chruschtschow


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren