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15.10.05 / Die Willkür kennt keine Grenzen / Wie schwer es sein kann, Wladimir Putins Reich zu verlassen / Ein Erfahrungsbericht

© Preußische Allgemeine Zeitung / 15. Oktober 2005

Die Willkür kennt keine Grenzen
Wie schwer es sein kann, Wladimir Putins Reich zu verlassen
Ein Erfahrungsbericht von Georg Gafron

Angeregt durch die Fernsehbilder von der 750-Jahr-Feier der Stadt Kaliningrad, die freilich bis vor 60 Jahren Königsberg hieß, haben mein 21 Jahre alter Sohn und ich vor kurzem die russische Stadt im ehemaligen Ostpreußen besucht. Das taten wir frei von Argwohn, hatte doch der Umgang des Bundeskanzlers Schröder mit dem russischen Präsidenten Putin auch bei dieser Gelegenheit den Eindruck freundschaftlicher Normalität zwischen Deutschen und Russen vermittelt. Von Litauen aus reisten wir über die Kurische Nehrung in die Oblast Kaliningrad ein. Das ging an dem wenig frequentierten Grenzübergang Nida (einst Nidden) ohne Schwierigkeiten. Aufgefallen ist mir dort allerdings, daß Fahrzeuge mit litauischem oder lettischem Kennzeichen sehr langsam abgefertigt wurden. Mit der Sympathie für die benachbarten EU-Länder, so dachte ich mir, scheint es nicht weit her zu sein. Nach drei Tagen Königsberg, mit den unterschiedlichsten Erfahrungen, wurde diese Vermutung zur Gewißheit.

Im Reiseführer hieß es, daß bei der Ausreise nach Polen in der Regel mit längeren Wartezeiten zu rechnen sei. Also machten wir uns schon mittags auf den Weg zum russisch-polnischen Grenzübergang Mamonovo (einst Heiligenbeil). Wenige Kilometer vor der Grenze kündigte ein Schild "Waiting-Lines" an. Auf einem großen Parkplatz standen schon Hunderte Autos mit polnischen Kennzeichen. Deren Insassen saßen mit störrisch-düsterer Miene auf Bänken herum. Uns händigte man einen Passierschein aus und wies uns in eine Spur zum Verlassen des Platzes ein. Kurze Zeit später stießen wir auf eine kilometerlange Schlange polnischer Fahrzeuge. Neben den Autos waren Liegestühle aufgestellt und kleine Lagerstätten errichtet worden. Das sah nicht gut aus. An einem Miliz-Checkpoint mußten wir unsere Pässe vorzeigen. Ein fröhlicher Polizist sagte: "Nemetzki, o.k.", wobei er uns mit einer Kopfbewegung bedeutete, in die für Russen vorgesehene Spur zu wechseln. Diese Schlange war nur etwa einen Kilometer lang. Dort warteten schon mehrere Fahrzeuge mit deutschem Kennzeichen. Zwei Dinge fielen mir auf: Es fuhren immer wieder Fahrzeuge mit ganz unterschiedlichen Nummernschildern in hohem Tempo auf der Gegenspur in Richtung Grenze. Und überall standen merkwürdige Menschen herum, die die Autofahrer ansprachen, sonst aber dauernd mit ihrem Handy telefonierten. Nach etwa einer Stunde - wir waren mittlerweile etwa hundert Meter vorangekommen, auf der polnischen Spur hatte sich gar nichts getan - schlich sich ein Mann in einem alten Kampfanzug an unser Fahrzeug heran. Nach allen Seiten nervös blickend, tuschelte er in gebrochenem Deutsch: "Wenn Sie mir 200 Euro geben, sind Sie in zehn Minuten an der Grenze." Ich fand diese Summe unverschämt hoch, willigte aber angesichts der sich abzeichnenden Lage zähneknirschend ein. Der Mann telefonierte. Dann sagte er uns, wir sollten in genau zehn Minuten nach vorne fahren und dem russischen Posten das Codewort "Sajawka" zuraunen. Gleichzeitig klärte er mich über die anderen, schon vorbeigefahrenen Fahrzeuge auf: "Die haben das gleiche Geschäft gemacht wie Sie." Ganz schön clever, ging es mir durch den Kopf. Die lassen hier lange Schlagen entstehen, um dann - ein perfektes System der Korruption - an der Grenze abzukassieren.

Nach genau zehn Minuten gab uns der Mann das Signal zum Aufbruch. Wir fuhren los. Vorbei an der Schlange, vorbei an einem großen Gittertor, das wie ein düsteres Symbol aus alten Sowjetzeiten wirkte. Dann hielt uns ein russischer Grenzer, ein hagerer Mittdreißiger, an: Was wir denn wollten? Ich suchte Augenkontakt und hauchte verschwörerisch gleich dreimal das Wort "Sajawka". Völlig verständnislos blickte der Russe mich an, bevor sein Gebrüll begann. Er hielt mir eine rote Kelle vor die Nase und bedeutete uns, sofort umzukehren. Das taten wir - und stellten uns wieder ganz hinten an. Natürlich bekamen wir von diesem Zeitpunkt an den freundlichen Helfer in der alten Armeeuniform nicht mehr zu Gesicht. Offenbar hatte der Mann Streit mit den Grenzern, denn die Fahrzeuge anderer 200-Euro-Zahler konnten weiterhin schnell und problemlos passieren. Langsam, sehr langsam rückten wir in der Schlange voran. Bewegung gab es wohlgemerkt nur in der "russischen" Schlange; bei den Polen nebenan standen seit Stunden die Ampeln auf Rot. Mittlerweile war es sieben Uhr abends geworden. Die Sorge beschlich mich, ob wir es bis Mitternacht über die Grenze schaffen würden - denn bis dahin galten unsere Visa.

Als wir gegen halb zehn an die Spitze der Warteschlange aufgerückt waren, kam ein russischer Offizier - die Mannschaft hatte inzwischen gewechselt - und wies die beiden vor uns stehenden russischen Fahrzeuge über die Grenze. Geschafft, dachten auch wir. Als der Mann unsere deutschen Pässe sah, begann aber auch er zu schreien und mit den Armen zu rudern, was wohl heißen sollte: zurück. Ich fragte ihn auf russisch nach dem Grund, waren doch zuvor alle Fahrzeuge mit deutschem Kennzeichen in dieser Spur abgefertigt worden. Er brüllte, daß wir hier keine Fragen zu stellen hätten. "Was an der Grenze der Russischen Föderation geschieht, entscheiden ausschließlich wir!" Dann schrie er nur noch "daweij, daweij". Ich versuchte noch einmal, ihm klar zu machen, daß wir schon neun Stunden warteten, in diese Spur eingewiesen worden seien und daß unsere Visa um Mitternacht ausliefen. Das interessierte den Grenzer nicht. Dafür brüllte er nur noch lauter "daweij, daweij". Ich erinnerte mich an Erzählungen meiner Eltern vom Einmarsch der Roten Armee in Deutschland. Mein Sohn und ich waren verzweifelt. Was tun? Denn nun sollten wir uns in die polnische Spur stellen. Wartezeit mindestens 30 Stunden. Wir fühlten uns gedemütigt und maßlos schikaniert. Das war ein Willkürregime, wie viele Deutsche es in den Zeiten vor dem Transitabkommen zwischen der DDR und der Bundesrepublik auf den Transitwegen durch den SED-Staat zu spüren bekommen hatten.

Ich faßte den Entschluß, so schnell wie möglich an die Kurische Nehrung nach Nida zurückzukehren. Das sind rund 80 Kilometer über schlechte Straßen, ohne Beleuchtung und Ausschilderung. In Königsberg bat ich einen Taxifahrer uns zur Grenze zu lotsen. Der Mann erkannte unsere Lage sofort. "Hundert Dollar." Ich drückte ihm hundert Euro in die Hand und bedankte mich freundlich. Tatsächlich brachte uns der Mann durch die finstere Nacht bis an einen Schlagbaum. Dort erwartete uns ein Milizionär: "Die Grenze ist zu." Ich wußte, daß der Grenzübergang Nida rund um die Uhr geöffnet ist und bat ihn, doch den Schlagbaum zu öffnen. Weitere hundert Euro wechselten den Besitzer. Der Schlagbaum öffnete sich. Jetzt waren es noch etwa zehn Kilometer bis zur Grenze.

Um 0.28 Uhr fuhren wir in den russischen Grenzkontrollpunkt ein. Wir waren das einzige Fahrzeug. Ein sehr gut deutsch sprechender Offizier verlangte Fahrzeugpapiere und Pässe. Dann bat er uns, ihm zu folgen. Er prüfte unsere Reisedokumente und das Visum, schaute mich an und sagte: "Sie halten sich illegal auf dem Territorium der Russischen Föderation auf. Sie haben jetzt ein ganz großes Problem." Ich versuchte, dem Mann unsere Lage zu erklären. Doch dazu kam ich nicht. Schon nach den ersten Worten unterbrach mich der Offizier barsch: "Nein, nein, nein, das sind Ihre Probleme, nicht meine." Nach einem längeren Moment des Schweigens schaute er uns an und sagte: "Sie werden bestraft werden." Er müsse jetzt telefonieren und auch Leute holen. Dann gab er uns den Befehl, uns in unser Fahrzeug zu setzen und dieses auf keinen Fall zu verlassen. Das hätten wir auch nicht gekonnt, denn neben den Wagen stellte sich ein bewaffneter Grenzposten.

Nun begann wieder eine längere Wartezeit. Dann kehrte der Offizier zurück. An mich gewandt, sagte er: "Da Sie über ein Dauervisum für die Russische Föderation aus beruflichen Gründen verfügen, hätten Sie ein Kaliningrad-Visum gar nicht gebraucht. Insofern ist die Sache erledigt. Sie können die Grenze passieren." Er meinte damit wohl zu Fuß, mit einem Koffer in der Hand. Denn zugleich beschied er uns, daß mein Sohn nach Kaliningrad zurückfahren müsse, um sich dort bei der Miliz zu melden. Ich sagte dem Offizier, daß ich diesen Anweisungen auf keinen Fall folgen würde, schon aus Sorge um die Sicherheit meines Sohnes. Mit den Worten: "Merken Sie sich, in Rußland leben nur gute russische Menschen", drehte er sich um und verschwand wieder im Kontrollgebäude. Ich sagte meinem Sohn, daß wir nun wohl verhaftet werden würden, wenn nicht anderes Schlimmes geschähe.

Etwa zwei Stunden später passierten wir die Grenze zu Litauen. Über die näheren Umstände möchte ich, um Dritte nicht zu gefährden, nichts berichten. Im litauischen Nida klingelten wir bei der ersten Pension und baten um eine Unterkunft. Zum Schlafen war uns allerdings nicht zumute. Dazu waren wir noch viel zu angespannt und zugleich erschöpft. Wir saßen uns schweigend gegenüber und tranken, entgegen aller Gewohnheit, eine Flasche Wodka.

 

Georg Gafron ist ein freier Journalist, der unter anderem für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" schreibt, aus der auch dieser Beitrag stammt.

 Übergang an der Staatsgrenze zwischen dem Königsberger Gebiet und der Republik Litauen


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