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22.10.05 / Die ungeliebte Hauptstadt / In Berlin sind Sinnkrise und Selbstzweifel der Deutschen mit Händen zu greifen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 22. Oktober 2005

Die ungeliebte Hauptstadt
In Berlin sind Sinnkrise und Selbstzweifel der Deutschen mit Händen zu greifen
von Annegret Kühnel

In einer Resolution hat das Berliner Abgeordnetenhaus eine Klärung des Hauptstadtstatus der deutschen Kapitale gefordert. Berlin fühlt sich in der Rolle, die ihm durch eine denkbar knappe Bundestagsentscheidung 1991 wieder zugewiesen wurde, alleingelassen vom Bund und anderen Ländern. Eine Hauptstadt, so schallt es aus dem Roten Rathaus, könne nicht behandelt werden wie ein x-beliebiges kleines Bundesland.

Der Hilferuf verrät eine tiefe Enttäuschung, wie man sie 1991 weder im Hinblick auf den Vereinigungsprozeß im allgemeinen noch im besonderen auf die Entwicklung Berlins hätte ausmalen können. Eine "Berliner Republik", so hofften die einen und fürchteten die anderen damals, würde von hier ihren Ausgang nehmen. Berlin würde zur "Werkstatt der Einheit", der Einheit Deutschlands und Europas, werden, schwärmten die Berlin-Anhänger. Von Berlin aus würde sich ein zentralistischer, deutschnationaler Größenwahn bemerkbar machen und die Dominanz über Europa anstreben, warnten die anderen, die innerhalb der politischen Klasse der alten Bundesrepublik bereits die Mehrheit bildeten. Letztlich waren es der Lokalpatriotismus der PDS und die FDP, die für die dünne Mehrheit für Berlin sorgten. Beide großen Volksparteien lehnten den Regierungsumzug mehrheitlich ab. Hätten die (West-) Grünen bei den Bundestagswahlen 1990 die Fünf-Prozent-Hürde übersprungen und ebenfalls abgestimmt, hätte das Ergebnis ganz anders ausgesehen.

Heute, 14 Jahre danach, haben Berlin-Euphoriker, noch mehr aber die Skeptiker einsehen müssen, daß sie die Möglichkeiten Deutschlands im europäischen und globalen Maßstab überschätzt und die Chancen, die der Berlin-Umzug für kurze Zeit vielleicht in sich barg, ungenutzt gelassen haben. Berliner Republik? Ach, hätten wir doch eine!

Was meint der Begriff überhaupt? Vor allem eine neue politische Sinnstiftung, die über die ängstliche, nicht mehr bezahlbare Fixierung auf den Sozialstaat hinausreicht. Parallel dazu sollte eine neue, urbane, intellektuell anspruchsvolle Politikerklasse entstehen, die willens und fähig ist, sich mit den kulturellen und wissenschaftlichen Institutionen, die in Berlin versammelt sind, auszutauschen und sich von ihnen anregen zu lassen. Passend dazu prägte Heinz Bude, der interessanteste, aber auch umtriebigste unter den deutschen Soziologen, den Begriff der "Generation Berlin". Bude hatte Politiker und Entscheidungsträger im Auge, die nach 1960 geboren und von 1968 nur indirekt oder gar nicht berührt worden sind. Sie würden weniger ideologisch, dafür nüchterner, moderner, pragmatischer, härter, mehr dem Heute verpflichtet, also weniger hitlerversessen sein als ihre 68er-Vorgänger.

Dynamisch wie jene "Generation" würde sich auch die Metropole entwickeln, so die Prognose. Der spätere US-Botschafter bei der Uno Richard Holbrooke prophezeite Mitte der 90er, in wenigen Jahren würde Berlin in der Welt als die wichtigste Stadt Europas anerkannt sein.

Zwar bietet Berlin durchaus einen stattlicheren Rahmen für die Repräsentanz des Staates als es das kleine Bonn vermochte. Andererseits hat die Ästhetik des Bonner Verwaltungsstaates dem Berliner Regierungsviertel ihren Stempel aufgedrückt. Die meisten neuen Gebäude sind scharfkantige Bürobauten, deren Glasfassaden Transparenz ausdrücken sollen, ohne daß die Politik - siehe Visa-Affäre - transparenter, geschweige denn besser geworden wäre. Modernistische Spielereien wie Leuchtinstallationen und monochrome Farbtafeln haben die Aufgabe, Modernität, Weltläufigkeit und Dynamik für die Politik zu reklamieren. In Wahrheit sind sie ein Kniefall vor dem internationalen Kunstbetrieb und somit ein Zeichen von Unsicherheit. Historische Bausubstanz wurde entkernt, damit nur nicht zuviel historische Aura von ihr ausgeht. Bloß keine nationalen Artefakte, die nicht kritisch "hinterfragt" und auf Abstand gehalten werden, nur nicht zuviel nationales Selbstbewußtsein. Die hybriden Denkmalspläne verstärken den Eindruck der Verdruckstheit.

Und der erhoffte engere Kontakt zum Volk, den der Umzug aus der Abgeschiedenheit Bonns in den Trubel Berlins mit sich bringen sollte? Da hat man im wahrsten Sinne des Wortes "vorgebaut": Der Reichstag und die übrigen Gebäude des Parlaments sind durch unterirdische Gänge sowie durch Straßen und die Spree überspannende Brücken verbunden. Eine eigene Welt jenseits des Lebens der Stadt ist geschaffen worden. Ähnlich trostlos versandete die "Generation Berlin". Mit ihr ist es nichts geworden, das Prinzip Beharrung hat sich durchgesetzt. Der Erfolg der politischen Führungskader leitet sich aus den Strukturen des überkommenen Parteien- und Verbändestaates her, der bruchlos von Bonn nach Berlin verpflanzt wurde und in dem Seilschaften und Hausmacht wichtiger sind als fachliche Brillanz. Diese Hausmacht wächst den Bundespolitikern traditionell aus den Landes- und Bezirksverbänden zu. Je lauter die imposante politische Bühne Berlins nach einer nationalen Elite ruft, die sie angemessen bespielt, um so mehr regen sich die Widerstände in den Ländern dagegen. Das Mißtrauen entzündet sich an Kleinigkeiten wie der Unterstützung der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg durch den Bund, die wegen der Finanznot der beiden Länder eine schiere Notwendigkeit ist. Baden-Württemberg hat bereits Widerstand angekündigt, es fürchtet ihre Etablierung als eine national repräsentative Institution.

Zugegeben, Berlin macht es seinen Kritikern überaus einfach. Der vom Bund gespeiste Hauptstadtkulturfonds, aus dem national bedeutsame Projekte finanziert werden sollen, wird für linksideologische Provokationen wie eine RAF-Ausstellung mißbraucht.

Im übrigen zeigt sich die Berliner Landespolitik vom Regierungsumzug unbeeindruckt. Die Landesverbände der Parteien schmoren weiter im eigenen Saft. Nicht einmal in der verrotteten Landes-CDU haben Zuzügler Fuß fassen können, nach wie vor werden Posten und Pöstchen unter den alten West-Berliner Seilschaften aufgeteilt.

Im städtischen Alltag macht sich die Anwesenheit von Reichstag und Regierung fast ausschließlich im Zentrum der Stadt bemerkbar. Schon am Ku'damm und erst recht im proletarischen Lichtenberg fühlt man die Nähe der politischen Macht nicht mehr.

Das in der Teilungsphase ausgeblutete Berlin ist auch wirtschaftlich nicht wieder auf die Füße gekommen. Es ist ein Unikum, daß die bei weitem größte Stadt eines Landes praktisch ohne wirtschaftliche Grundlage existieren muß. Berlin liegt inmitten einer ökonomisch irrelevanten Zone, die von Abwanderung und Überalterung geprägt ist.

Über die Zukunft herrscht völlige Ratlosigkeit, die sich auch im Abschlußbericht einer vom Abgeordnetenhaus eingesetzten Enquetekommission niederschlägt, der neben Parlamentariern Vertreter aus Wirtschaft und Wissenschaft angehörten. In dem am 12. Mai 2005 veröffentlichten Papier werden die Haushaltskonsolidierung, die Straffung der Verwaltung, die Modernisierung der Infrastruktur, der Verkauf defizitärer Landesunternehmen und die Besinnung auf die Stärken der Stadt - Gesundheit, Kommunikation, Medien, Kultur - als Wirtschaftsfaktoren gefordert. Durchweg Platitüden, die bereits ein durchschnittlicher Zeitungsleser im Schlaf herbetet.

So klammern sich die Offiziellen an jeden Strohhalm, der ein wenig hauptstädtischen Glanz verspricht, und verrennen sich dabei bisweilen fürchterlich - wie der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit mit seinem peinlichen Grußwort zu einem "Sado-Maso-Festival" diesen Sommer, mit dem er "Weltoffenheit" demonstrieren wollte.

Einzig Kultursenator Thomas Flierl (PDS) hat eine klare Zukunftsvorstellung und nutzt die Chancen, die Berlin sonst nicht hat, konsequent aus, indem er den öffentlichen Raum in eine antifaschistisch-postsozialistische Andachtsstätte verwandelt.

Straßen werden umbenannt, ein Denkmal für Rosa Luxemburg steht vor der Vollendung und ein Museum für Zwangsarbeiter ist fest eingeplant. Weniger dringlich ist ihm das Mauermuseum, das er sich als ein Museum über den Kalten Krieg wünscht. So könnte die Verantwortung für die Mauertoten von der SED abgewälzt und auf recht viele Schultern verteilt werden.

Die alten Genossen werden bei der Stange gehalten, zugleich wird die PDS fester Teil des politisch-korrekten Kultur- und Gedenkbetriebs des Westens und verschiebt diesen geduldig weiter nach links. Eines Tages wird die symbolpolitische Weichwährung in politisches Hartgeld umgetauscht und könnten sich die SED-Nachfolger als die eigentlichen Gewinner der "Berliner Republik" erweisen.

Foto: Brücke über die Spree verbindet zwei Abgeordnetenhäuser des Bundestages


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