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22.10.05 / Ein Freigeist mit festen Wurzeln / Vor 200 Jahren wurde Adalbert Stifter geboren - Erinnerungen an einen unangepaßten Querdenker

© Preußische Allgemeine Zeitung / 22. Oktober 2005

Ein Freigeist mit festen Wurzeln
Vor 200 Jahren wurde Adalbert Stifter geboren - Erinnerungen an einen unangepaßten Querdenker
von Esther Knorr-Anders

Adalbert Stifter - viele Jahre hochgerühmter Schriftsteller, dann von der zeitgenössischen Kritik verrissen! Man konnte - oder wollte - seinen naturbeschwörerischen Schilderungen nicht mehr folgen. Stifter wurde vor den Gefahren der Idylle gewarnt. Friedrich Nietzsche jedoch befand, daß der "Nachsommer" ein bleibendes Werk deutscher Literatur sei. Folgen wir der Lebensfährte des Dichters.

Am linken Ufer des Lipno-Stausees im Moldautal liegt Oberplan (Horni Plana), der Geburtsort Stifters. Urkundlich erstmals 1332 erwähnt, wurde der Flecken um 1349 zum Markt erklärt, er lag günstig an den alten Handelswegen. Unweit der um 1777 entstandenen Gutwasser-Kapelle wurde 1906 das Stifter-Denkmal plaziert. Am Ortsausgang steht ein kleines, liebevoll restauriertes Haus. In ihm kam am 23. Oktober 1805 Adalbert Stifter zur Welt. Verharrt man vor dem Haus, ahnt man den Lebenszuschnitt der einstigen Bewohner. Bescheidenheit, an die Beengung angepaßtes soziales Verhalten bedingten einander. Das galt für alle Einwohner im Ort.

In dieser Gemeinschaft genossen die Leineweber besonderes Ansehen; zu ihnen gehörten seit Generationen die Stifters. Adalberts Vater Johann erkannte hellsichtig, daß im neuen Jahrhundert mit der Leineweberei allein keine Familie zu ernähren war. Er begann mit Flachs und Leinen zu handeln. Johann und Magdalene hatten im August 1805 geheiratet, wenig später wurde Adalbert geboren. Diese Tatsache veranlaßte ihn später, sein Geburtsjahr um ein Jahr zu verlegen. Er wollte nicht vorehelich gezeugt worden sein. Möglicherweise befürchtete er Nachteile in seiner Beamtenlaufbahn. Damals eine nicht gänzlich unbegründete Furcht.

Der wißbegierige Junge besuchte die Dorfschule bei Lehrer Josef Lenne. Bald erkannte dieser, daß Adalbert hochbegabt war und empfahl den Eltern, ihn in eine höhere Schule zu schicken. Sie stimmten zu. Doch im November 1817 erhielt die Mutter die Nachricht, daß ihr Mann bei Marchtrenk von einem umstürzenden Wagen erschlagen worden war - und jäh veränderte sich das Leben der Familie. Fünf Kinder waren zu versorgen; Magdalene Stifter war überfordert. Adalbert, ältester Sohn, sollte nun Bauer werden. Damit war der Großvater Franz Friepes nicht einverstanden. Er hatte Verbindungen zur Geistlichkeit, und so reiste er mit Adalbert ins Benediktinerstift Kremsmünster. Pater Placidus Hall examinierte Adalbert; er gab die Zusage, ihn ins Internat aufzunehmen. Daß das Latein des Jungen miserabel war, interessierte den Pater nicht, wohl aber war er von dessen Schilderung des Böhmerwaldes angetan. Er hörte die dichterische Sprache heraus.

1958 legte Urban Roedl eine sorgfältig erarbeitete Stifter-Biographie vor. In ihr heißt es zum Weggang Adalberts aus Oberplan: "Im Spätherbst 1818 verläßt er, 13jährig, das breite lichte Tal mit dem Moldauherzen, die Felder und Weiden und den Blick auf den unendlichen Wald; ein Bauernbub, und untilgbar trägt er in sich das Gesetz seiner Herkunft."

Adalberts Kindheit ist vorbei. Er wird ein guter Schüler. Seine beiden Talente, Schreiben und Malen, werden vom Stift gefördert. 1825 erkrankt er an den Blattern. Narben im Gesicht bleiben zurück. Sein liebenswertes, Grundehrlichkeit ausstrahlendes Wesen läßt ihn in allen Gesellschaftskreisen Freunde und Gönner gewinnen.

Im Sommer 1826 wird er zur Universität entlassen; in Wien studiert er Jura, Philosophie, Naturwissenschaften. Sein einstiges Ziel, Geistlicher zu werden, hat er aufgegeben. Das entfremdet ihn der heimatlichen Bevölkerung. Nicht verwunderlich, denn Wien prägt ihn. Er findet Zugang zu literarischen Kreisen, sitzt im "Silbernen Kaffee" in der Plankengasse mit Grillparzer, Lenau und dem revolutionären Grafen Auersperg, alias Anastasius Grün, zusammen, besucht Oper, Schauspiel und Konzerte. Er finanziert das mit seinem Salär als Privatlehrer der Kinder wohlhabender Eltern.

Allmählich zeichnen sich seine Manieren und die Sprache durch Geschliffenheit aus. "So oft er nach Hause kam, war der Abstand größer." Instinktiv lehnten die im Glauben und in ihrem Brauchtum tief verwurzelten Böhmerwälder den "Freigeist" ab. Es hinderte Stifter nicht, in den Semesterferien immer wieder nach Oberplan aufzubrechen.

Und es zog ihn ins nachbarliche, städtische Friedberg, ins Haus des Leinwandhändlers Matthias Greipl, der es zu ansehnlichem Vermögen gebracht hatte. Hier verkehrte die akademische Jugend, Stifter fühlte sich unter seinesgleichen. Tieferer Grund aber war Fanni Greipl. Sie war auch Anlaß seiner wachsenden Existenzängste. Er liebte diese junge Dame, die für ihn aus einer anderen Welt kam. Die Psyche des zukünftigen Poeten verlieh ihr zauberische Aura. Er wußte jedoch, daß er sich ohne geregeltes Einkommen den Eltern der reichen Erbin nicht als Bewerber präsentieren durfte. Die Eltern ihrerseits beobachteten unwillig, daß ihre praktisch veranlagte Fanni sich gern in der Nähe Stifters aufhielt. Um eine enger werdende Verbindung abzuwenden, beauftragten sie ihren Sohn, seinem Freund Stifter nahezulegen, das Greiplhaus zu meiden.

Damaligen Gesellschaftsformen entsprechend mußte Stifter sich fügen. Zwar schrieben er und Fanni sich unzählige Briefe, versprachen, aufeinander zu warten, bis die Heirat möglich werde. Stifter, durchaus um berufliches Weiterkommen bemüht, legte das Staatsexamen über "Bürgerliches Recht" ab, veröffentlichte unter dem Pseudonym "Ostade" erste Gedichte, Erzählungen. Es nützte nichts. Fanni, ihrer gesellschaftlichen Umwelt ausgesetzt, schrieb seltener. Zugetragene Gerüchte über eine Liebschaft Stifters, Mißdeutungen von brieflichen Äußerungen entfalteten Wirkung. Anfang 1830 schrieb Stifter ihr: "Dich liebe ich so offen und rück-haltlos, wie ich kaum eine Schwester lieben kann; und vier Monate vergehen ohne eine Zeile. Ich verteidige Dich heftig gegen mich selber, aber der Mensch unterliegt seinen Schlüssen - wie gerne auch das Herz glauben möchte, es muß doch zuletzt der unbedingten Gewalt der klaren Einsicht des Verstandes notwendig und leidend recht geben. Ob ich an Dir zweifle? Noch nicht: aber rätselhaft bist Du mir, irre bin ich, und, offen gesagt, stehe an der Grenze des Zweifels ..."

Mehr oder weniger bewußt hatten beide, von Anbeginn ihrer Liebe, an der "Grenze des Zweifels" gestanden. 1836 heiratete Fanni den Kameralbeamten Josef Fleischanderl. Frohen Gemüts lebte sie nicht. Ihren Freundinnen gestand sie, daß sie von den Erinnerungen an die Vergangenheit zehre. Sie starb im September 1839 nach der Geburt ihres ersten Kindes. Stifter fühlte sich befreit und dafür gab es Gründe.

Am 15. November 1837 hatte er in der Augustinerkirche in Wien selbst geheiratet. Die nach langem Zögern Erwählte war jene Frau, die Fannis Eifersucht entfacht hatte. Die Gerüchte einer Liebschaft Stifters waren zutreffend gewesen, doch ernste Bindung bestand nicht. Auf einem Hausball hatte er die Putzmacherin Amalie Monhaupt, Tochter eines verarmten Fähnrichs, kennengelernt. Der ihr nahestehende Maler Ferdinand von Lampi hatte sie porträtiert: eine füllige, dunkeläugige Schönheit. Stifter, damals 27 Jahre alt, verfiel ihrem erotischen Reiz. Roedl: "Das Weib brach in sein Leben ein, Dämme barsten unter dem Druck der gestauten Gefühle." Zum Entsetzen seiner Freunde heiratete er die "Putzmacherin" - und hat es nie bereut.

Amalie erwies sich als Glücksgabe für sein Dasein. Sie war die perfekte Wirtschafterin und Hausfrau. Trotz immer knapper Geldmittel in der Ehegemeinschaft verstand sie es, behagliche, sogar elegante Atmosphäre zu schaffen. Das gefiel Stifter. Auch äußerlich wurden die Eheleute sich ähnlich, korpulent, behäbig waren sie geworden; Stifter nannte sich "einen wandernden Wollsack".

Zu seinen kargen Einnahmen als Privatlehrer - die Beamtenlaufbahn wollte ihm einfach nicht gelingen, seine Bewerbungen wurden stets abschlägig beschieden - kamen Erlöse aus dem Verkauf einzelner von ihm gemalter Landschaftsbilder und Artikelhonorare. Er wurde ständiger Mitarbeiter und Redakteur namhafter Blätter. Als Novellist erzielte er 1840 den Durchbruch mit "Der Kondor". Das Sujet erregte Aufsehen. "Da fliegt ein Mädel in die Luft" jubelte es in Wiener Salons. Der Inhalt: Drei Menschen finden sich zur Ballonfahrt zusammen: ein schwärmerischer Lord, ein beobachtender Wissenschaftler und die emanzipierte junge Frau. Der Ballon kehrt auch zur Erde zurück, doch die Abenteurer erleben psychische Veränderung. Ein weiteres spektakuläres Stück schuf er mit "Ein Gang durch die Katakomben". Der Dichter erforscht die Skelettdepots unter dem Stefansdom, "wo das Höchste und Heiligste dieser Erde, die menschliche Gestalt, ein wertloses Ding wird, hingeworfen in das Kehricht, daß es liegt wie ein anderer Unrat." Stifter schließt mit einer frappierenden dialektischen Wendung: "Mitten im Reiche der üppigsten Zerstörung durchflog mich ein Funke der innigsten Unsterblichkeitsüberzeugung."

Sein Weg zur Berühmtheit über Österreich hinaus erstreckte sich offen vor ihm. Die Redaktionen beneideten einander um seine Beiträge; feste, termingebundene Aufträge drängten. Stifter war der Schrecken der Redaktionen und Verleger, von pünktlicher Manu-skript-Lieferung hielt er nichts. Dennoch: Veröffentlicht wurden 1840 bis 1846 zahlreiche Novellen, darunter "Brigitta", "Der Hagestolz", "Der Hochwald", "Die Mappe des Urgroßvaters". Weitere Erzählungen erschienen in den Sammelbänden "Studien" und "Bunte Steine". Der Roman "Witiko" (1867) gilt der Nachwelt als Stifters bedeutendstes Werk. Damals waren historische Stoffe gefragt. Stifter lag es fern, einen "Historienschinken" mit Raubrit-terromantik und Minnegesängen verfassen zu wollen. Er erzählte die ungeschönte Geschichte, die Machtkämpfe einer Dynastie Böhmens im 12. Jahrhundert, "Wittigonen" genannt. Witiko, Erbauer der Burg Krumau - heute großartiges Kulturdenkmal in der Nähe von Oberplan - wurde zum Reformator einer vom sittlichen Zerfall bedrohten Gemeinschaftsordnung. Für den "Witiko" erhielt Stifter vom Weimarer Großherzog Karl Alexander den Hausorden. Schriftstellerischer Ruhm wie auch böse Kritiken hatten sein Werk begleitet, das wegen der doppelbödigen, aus hoher Sensibilität gespeisten Inhalte oft auf Mißverständnisse, ja Ablehnung gestoßen war. Erst um 1920 wurde es wiederentdeckt; auch uns ist das unbenommen.

Ein "bürgerlicher" Wunschtraum, die Beamten-Karriere, war Stifter zu guter Letzt doch noch erfüllt worden. 1850 war er, der sich zeitlebens um die mangelhafte Bildungsvermittlung im Schulsystem sorgte, zum "Inspektor der Volksschulen Oberösterreichs in Linz" ernannt worden, Hofrat wurde er auch. Gegen Ende seines Lebens, schwer leberkrank und an einer Störung des Gangliensystems (Nervenzellen, Schaltstelle für nervöse Impulse) leidend, befand er sich rastlos auf der Flucht von Badeort zu Badeort oder in die böhmische Heimat. Niemand weiß, wie unerträglich seine Schmerzen gewesen sein müssen, als er in der Nacht des

26. Januar 1868 mit dem Rasiermesser versuchte, die Halsschlagader zu durchtrennen. Zwei Tage lag er im Koma. Er starb am

28. Januar zu früher Morgenstunde. "Wie es sein wird, wenn wir die Grenze dieses Lebens betreten haben, wenn sein letzter Atemzug vorbei ist - wer kann es sagen?", hatte er vor langer Zeit gefragt.

 

Adalbert Stifter: Die Universalität seiner Persönlichkeit, deretwegen der Österreicher unter die wichtigsten Persönlichkeiten der Literatur- und Kulturgeschichte Mitteleuropas im 19. Jahrhundert eingereiht wird, versetzte nicht nur seine Zeitgenossen in Erstaunen. Er war Dichter, Prosaiker, Pädagoge, Maler (siehe Landschaftsbild r.), Philosoph und Naturwissenschaftler.

 

Ein Weltliterat, der seine böhmische Heimat über alles liebte

"... Und wenn die Berge nicht wären und die Anhöhen, die uns umgeben, so würdest du noch viel mehr Häuser und Ortschaften sehen: die Karlshöfe, Stuben, Schwarzbach, Langenbruck, Melm, Honnetschlag, und auf der entgegengesetzten Seite Pichlern, Pernek, Salnau und mehrere andere. Das wirst du einsehen, daß in diesen Ortschaften viel Leben ist, daß dort viele Menschen Tag und Nacht um ihren Lebensunterhalt sich abmühen und die Freude genießen, die uns hienieden gegeben ist. Ich habe dir darum die Wälder gezeigt und die Ortschaften, weil sich in ihnen die Geschichte zugetragen hat, welche ich dir im Heraufgehen zu erzählen versprochen habe. Aber laß uns weitergehen, daß wir bald unser Ziel erreichen, ich werde dir die Geschichte im Gehen erzählen ..." aus "Bunte Steine"

"... Dann wende den Blick auch nordwärts; da ruhen die breiten Waldesrücken und steigen lieblich schwarzblau dämmernd ab gegen den Silberblick der Moldau; westlich blauet der Forst an Forst in angenehmer Färbung, und manche zarte, schöne, blaue Rauchsäule steigt fern aus ihm zu dem heitern Himmel auf. Es wohnet unsäglich viel Liebes und Wehmütiges in diesem Anblicke ..." aus "Der Hochwald" (1842)

"... Wenn ich in der Ferienzeit meiner Studien oft von meiner Heimat Oberplan im südlichen Böhmen in jene Wälder streifte, stieg ich gerne auf der anderen Seite zu dem alten Rosenberger hinab, und verweilte, nicht selten mit mehreren Genossen, durch eine Zahl von Tagen in seinem Hause, wo gute und sehr billige Bewirtung zu treffen war. So wurde ich mit seinen Kindern befreundet ..." aus "Aus dem bairischen Walde" (1868)

"... Da in diesem Becken buchstäblich nie ein Wind weht, so ruht das Wasser unbeweglich, und der Wald und die grauen Felsen, und der Himmel schauen aus seiner Tiefe heraus, wie aus einem ungeheuern Glasspiegel. Über ihm steht ein Fleckchen der tiefen, eintönigen Himmelsbläue. Man kann hier tagelang weilen und sinnen und kein Laut stört die durch das Gemüt sinkenden Gedanken, als etwa der Fall einer Tannenfrucht oder der letzte Schrei eines Geiers. Oft entstieg mir ein und derselbe Gedanke, wenn ich an diesem Gestade saß: - als sei ein unheimlich Naturauge, das mich hier ansehe - tief schwarz - überragt von der Stirne und Braue der Felsen, gesäumt von der Wimper dunkler Tannen - drinn das Wasser regungslos, wie eine versteinerte Träne ..." über den "Plöckensteinersee"

"... Als wir aus dem Tore hinaustreten und die Stadt hinter uns ließen, empfing uns der heitere große Grasplatz mit seinen vielen Bäumen, und eine wirklich herrliche Mondnacht stand über dem Raume. Ein ungeheurer Himmel wie aus einem Edelsteine gegossen war über der großen Rundsicht der Vorstädte, nicht ein einziges Wölkchen war an ihm, und von seinem Gipfel schien das Rund des Mondes lichtausgießend nieder..." aus "Bunte Steine"

Der Literatur-Nobelpreisträger Thomas Mann bezeichnete Stifter als einen der "merkwürdigsten, hintergründigsten, heimlich kühnsten und wunderlich packendsten Erzähler der Weltliteratur".


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