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22.10.05 / Für 95 Euro in die Heimat / Mit einer Cousine, 150 Kilogramm Gepäck und einem Linienbus nach Königsberg

© Preußische Allgemeine Zeitung / 22. Oktober 2005

Für 95 Euro in die Heimat
Mit einer Cousine, 150 Kilogramm Gepäck und einem Linienbus nach Königsberg

Nach 60 Jahren Vertreibung machte sich Ilse Hunger auf ihre 15. Fahrt in die Heimat, um an den Feierlichkeiten "750 Jahre Königsberg" teilzunehmen.

Mit dem Linienbus Stuttgart-Königsberg ist die Fahrt sehr preiswert - 95 Euro hin und zurück, eine anstrengende Reise, aber was nimmt man nicht alles auf sich, wenn es in die Heimat geht. Bei dieser Fahrt war Ilse Hunger mit ihrer Cousine Elsbeth privat bei der Schwester ihrer Kindergartenleiterin Alla aus Kaimen untergebracht. Natascha wohnt mit ihrer Familie auf der Lomse in Königsberg. Drei Stunden Wartezeit nahm sie mit Dolmetscherin Galina auf sich, um die beiden abzuholen. Inzwischen hatten diese eine 22stündige Reise hinter sich mit Gepäck von 150 Kilogramm Gewicht. Mehrere Touren waren notwendig, um all die Koffer und Taschen nach Hause zu bringen. Die beiden wurden mit deftigem Mittagessen begrüßt, auch der Wodka durfte nicht fehlen - sie waren in Königsberg! Dank strahlendem Sonnenschein waren sie auf einmal überhaupt nicht mehr müde. Nach Duschen und Kaffee riefen sie eine Menge Familien an, denn sie hatten Briefe zu überbringen. Die Nacht war entsprechend kurz. Am zweiten Tag gingen sie mit Natascha, die für zwei Wochen ihr Chauffeur werden sollte, und Galina auf Tour. Ihr erster Halt: Elsbeths Elternhaus in Sellwethen, Kirchspiel Groß Legitten (Kreis Labiau). Weiter geht es nach Labiau - ein Brief soll zur Chefärztin im Krankenhaus der Kreisstadt. So ist Ilse Hunger zum ersten Mal im Labiauer Krankenhaus mit ihren 70 Jahren - welch eine Begrüßung und Bewirtung, mit Worten nicht zu beschreiben. Weiter geht es nach Groß-Baum. Da ist die Hotelanlage im alten Forsthaus - eine Oase. Der Besuch gilt einer Familie mit Zwillingen, vier Monate alt. Dieses Haus hat zwar ein neues Blechdach, doch innen gleicht es einer Scheune. In einer Ecke steht der selbst eingebaute Herd, in der anderen Ecke die Waschküche, Wannen, Schüsseln und ein Waschkessel mit Holz zum Feuern. Die Zwillinge finden sie in einem vom Rohbau abgeteilten Raum. In zwei Kinderbettchen schlafen die Babys. Sie ahnen noch nicht, in was für eine Welt sie hineingeboren wurden. Der Brief bringt Tränen - Freudentränen und immer wieder "pasiba" (danke).

Noch heute wird Ilse Hunger dieses Bild nicht los. Das ist der Zustand nach 60 Jahren. So lebt die Bevölkerung der Eroberer, besser noch "Sieger" auf dem Land. Bittere Armut bei den Rentnern und Familien mit Kindern. Auch der Alkohol trägt dazu bei.

Auf geht es - die beiden müssen weiter nach Kreuzingen. Sie wollen Ulla, ein ehemaliges Wolfskind aus Labiau, aufsuchen. Sie blieb 1948 in Litauen, heiratete einen Litauer. Es zog sie jedoch mit der Familie nach Ostpreußen zurück. Sie baute mit ihrem Mann ein Häuschen. Inzwischen ist er gestorben, sie erlitt vor zwei Jahren einen schweren Schlaganfall. Auf ihren Fahrten hat Ilse Hunger sie oft besucht - sie war mit ihrem Sohn Taxifahrerin und Dolmetscherin. Nun fristet sie ein trauriges Dasein. Das Wiedersehen ist herzlich und traurig zugleich. Über den mitgebrachten Brief und den Labiauer Heimatbrief ist sie sehr glücklich. Der Tag ist noch nicht zu Ende - die beiden werden im Kindergarten von Kaimen erwartet. Abendessen steht auf dem Tisch, und so wird es Mitternacht, bis sie Königsberg erreichen. Am dritten Tag steht Einkaufen für den Kindergarten auf dem Programm. Für mehrere hundert Euro erstehen sie Spielzeug und Geräte, die am anderen Tag geliefert werden. Da ist Weihnachten und Ostern für die Kinder an einem Tag. Die mitgebrachten Kleider, Schuhe, jede Menge Süßigkeiten und vieles mehr bringen die Kinder völlig aus dem Häuschen.

Am vierten Tag sind die beiden mit Bekannten unterwegs zu Ilse Hungers Elternhaus - oder dem, was davon übrig ist. Der Anblick von Verwahrlosung, Disteln und Dornen übermannt Ilse Hunger, erfordert ihre ganze Kraft. Sie geht wie betäubt die Dorfstraße entlang. 60 Jahre nach der Vertreibung tut es unbeschreiblich weh. Der Sonntag beschert schöne Stunden: Alexander, ein langjähriger Freund, holt die beiden ab, und sie fahren über Tapiau und Insterburg nach Angerapp zu seinen Eltern, mit denen sie seit zehn Jahren eine aufrichtige Freundschaft pflegen.

Es folgen drei Tage Königsberg unter Regenwasser. Der Pregel läuft über die Ufer - sie sind auf ihrer "Insel" eingeschlossen. Als es am Mittwoch aufhört zu regnen und die Straßen einigermaßen befahrbar werden, machen Ilse Hunger und ihre Freundin Elisabeth aus Berlin sich auf den Weg nach Nautzken und von da nach Wilditten. Die Gastgeber warten schon mit dem Mittagessen auf sie - Elisabeth ist erstaunt und erfreut über die Renovierung ihres Elternhauses. Bad und Toilette im Haus sind auf dem Land noch selten. Weiter geht es zur Schule nach Bothenen. Sie wird zur Zeit von außen und innen renoviert - es tut sich was. Der Weg zum Friedhof läßt sie verstummen - sie suchen die Gräber ihrer Vorfahren, aber es gibt sie nicht mehr. Ein stilles Gebet am Ehrenmal gibt ihnen wieder Kraft. So geht es nochmals zum Kindergarten Kaimen und zu Alla.

Das ist dann das Abschiedsessen, denn Elisabeth reist am nächsten Tag um 5 Uhr morgens Richtung Berlin. Ilse Hunger und Elsbeth hatten dagegen noch ein paar Einladungen nachzukommen. Was in 14 Jahren seit 1991 an Freundschaften aufgebaut wurde, muß auch gepflegt werden. Überall mußten sie das Versprechen abgeben, im nächsten Jahr wiederzukommen. Königsberg ist schon eine Reise wert. Zum 750. Jubiläum ist dort viel aufgebaut und renoviert worden, die Straßen sind gut befahrbar. Der Lenin wurde vom Sockel geholt - dort steht jetzt eine orthodoxe Kirche mit viel Gold. Das Königstor strahlt im alten Glanz. Nach 14 Tagen in der Heimat hat Ilse Hunger ihr Zuhause erst richtig schätzen gelernt - doch Ostpreußen, wie schön bist Du! I. H.

Ilse Hunger (2. v.l.) im Kreise anderer Ostpreußinnen vor der Königsberger Friedensbrücke


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