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05.11.05 / Wie ein Festtag prussifiziert wurde / Der ursprünglich katholische Martinstag wurde im protestantischen Preußen auf ganz eigene Art begangen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 05. November 2005

Wie ein Festtag prussifiziert wurde
Der ursprünglich katholische Martinstag wurde im protestantischen Preußen auf ganz eigene Art begangen
von Manfred Müller

Die Gaben, welche die Kinder bei dem festlichen Umzug mit ihren buntbemalten Laternen am Martinstag ersingen, erhalten die Brüder und Schwestern, die noch im Osten sind. Sie sollen es doch erfahren, daß sie nach wie vor zu uns gehören, wenn alle die Gaben, die unsere Kinder für sie ersungen haben, in ihre Hände kommen." Mit dieser Notiz antwortete ein Heimatvertriebener einige Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf eine Umfrage, durch die ermittelt werden sollte, welches religiöse Brauchtum unter den Heimatvertriebenen noch lebendig sei. Die Notiz bezog sich auf die evangelische Gemeinde St. Martin im westfälischen Espelkamp-Mittwald und zeigt, wie der dort übliche Martinsbrauch eine zeitgemäße Akzentuierung erhielt.

Im preußischen Staat war der Martinstag, der 11. November, über Jahrhunderte hin ein wichtiger Einschnitt im Wirtschaftsjahr und im bäuerlichen Leben gewesen. Berühmt in der preußisch-deutschen Geschichte wurde der Martinstag des Jahres 1810 durch die preußischen Reformen. Das königliche Edikt vom 9. Oktober 1807 bestimmte: Mit dem Martinitage eintausendachthundertundzehn hört alle Gutsuntertänigkeit in Unseren sämtlichen Staaten auf. Nach dem Martinitage 1810 gibt es nur freie Leute, so wie solches auf den Domänen in allen Unseren Provinzen schon der Fall ist ..."

Im alten Preußen traf man wie im ganzen christlichen Europa auf den Brauch, am Vorabend des Martinsfestes (oder am Martinstag selbst) kräftig zu schmausen. Besonders beliebt war es, eine köstlich zubereitete Martinsgans zu verzehren und diese mit guten Weinen zu begießen. Dieser Brauch war ausgegangen von Tours, der Bischofs- und Begräbnisstadt Martins, dem Zentrum des kirchlichen Martinskultes. Nach dem Tode Martins (397 n. Chr.) war heidnisches Eß- und Trinkbrauchtum auf den verstorbenen Bischof übertragen worden. Es erfuhr noch eine Verstärkung, als die kriegerischen Franken, Eroberer Galliens, den römischen Ex-Gardeoffizier zu ihrem National- und Reichsheiligen erkoren. Der ausgelassene Martinsschmaus erhielt eine kirchliche Rechtfertigung dadurch, daß in Gallien nach dem Martinstag das strenge Vorweihnachtsfasten begann. So konnten die Christen zu Ehren eines populären Heiligen noch einmal in vollen Zügen Speis und Trank genießen, bevor sie sich dem Fastengebot unterwarfen. Wie stark und wie exzessiv dieser Martinsbrauch in Europa verbreitet war, geht aus einer kritischen Bemerkung des niederländischen Humanisten Johannes Potamus hervor. Danach ehrten im 15. Jahrhundert die Franzosen, Spanier, Deutschen und Italiener St. Martin auf eine Weise, "daß es als eine Schande galt, wenn sie an seinem Festtag nicht betrunken waren".

Von den Legenden über den heiligen Martin hat die Geschichte der Mantelteilung am Stadttor von Amiens wohl am stärksten die Volksphantasie beeindruckt und zahlreiche Künstler zu Gemälden und Plastiken inspiriert. Der junge römische Offizier (zu dieser Zeit noch Heide, aber Taufbewerber) teilte mit dem Schwert seinen Mantel und reichte die eine Hälfte einem frierenden Bettler. Dieses Motiv des Schenkens und Beschenktwerdens war ein Anknüpfungspunkt für die Heischgänge (mit entsprechenden Liedern), bei denen Kinder und Jugendliche um den Martinstag herum Gaben einsammelten (Pfannkuchen, Schmalzgebäck, Süßigkeiten, Obst et cetera). In den rheinisch-westfälischen Kerngebieten eines breit entfalteten Martinsbrauchtums verband sich dies mit dem Abbrennen von Martinsfeuern und mit Umzügen, bei denen man zu Ehren des Heiligen Lampen und Fackeln (oft gebastelt aus Runkelrüben oder Kürbissen) herumtrug.

Die Heischegänge und teilweise auch das Feuer- und Lichtbrauchtum zum Martinsfest hatten sich nach Nord-, Mittel- und (in einigen Landstrichen) auch nach Ostdeutschland ausgebreitet, als die Reformation die Heiligenverehrung zu bekämpfen begann. Beim Martinsbrauchtum hatte sie damit nicht immer Erfolg. Oft blieben die Heischegänge und (mitunter verballhornte) Martinslieder erhalten. Wo dies der Fall war (vor allem in Westfalen und in Teilen Thüringens) fand eine Umwidmung von Martin von Tours auf Dr. Martinus Luther statt. Daß dies nicht unbedingt zu einem Gegeneinander der Konfessionen führen mußte, zeigte sich zu DDR-Zeiten in dem 1815 preußisch gewordenen Erfurt. Hier strömten Jahr um Jahr auf dem großen Platz vor dem Dom und der Severikirche die Kinder mit ihren Lampions zu einer ökumenischen Martinsfeier zusammen.

Die Martinszüge, wie sie sich im 20. Jahrhundert (insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg) über Rheinland-Westfalen hinaus ausbreiteten, sind das Ergebnis einer Brauchtumsreform, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aus einer typisch preußischen Haltung heraus vorgenommen wurde. Im Rheinland war das Martinsbrauchtum bei Kindern und Jugendlichen etwas verwildert. Nun ging von Angehörigen des Bildungsbürgertums, insbesondere von Lehrern, der Anstoß zu einer Reform aus. Man wollte am Martinsabend ein "wildes Chaos" in den Straßen vermeiden, die Jugend sollte sich nicht selbst überlassen bleiben. Das "Käzkes-Springe" (Springen über brennende Kerzen als Ersatz für das immer wieder verbotene Martinsfeuer) sollte ebenso unterbleiben wie das Singen von "Gassenhauern", auch sollten Ausschreitungen, die von "halbwüchsigen Burschen" ausgingen, unterbunden werden. Die Dichterin Clara Viebig (1860 bis 1952) hat in ihrem Roman "Wacht am Rhein" (Erstausgabe 1902) ihre Kindheitseindrücke vom Martinsabend in Düsseldorf wiedergegeben. Dort singen zum Beispiel die Jungen einen typischen "Gassenhauer": "Zintmäte (St. Martin), Zintmäte. / De Kälver hant lange Stäte (Schwänze), / De Jongens sind Rabaue (wüste Kerle), / De Weiter (Mädchen) wolle mehr haue." Jetzt wollte man geordnete, von Lehrern beaufsichtigte Martinszüge mit Blaskapellen und mit Martinsliedern, die den guten Ton wahrten. Trotz der im 1815 preußisch gewordenen Rheinland immer noch anzutreffenden Ressentiments gegen die Preußen - resultierend aus Mentalitätsunterschieden, Ungeschicklichkeiten der Regierung und Kulturkampferfahrung - hatten die Reformer Wertvorstellungen wie Zucht und Ordnung offensichtlich verinnerlicht. Auf jeden Fall war man gut patriotisch. Die Umzüge wurden mit einem Choral und einem vaterländischen Lied beendet (etwa die "Wacht am Rhein" oder "Heil dir im Siegerkranz").

Wenn der am Anfang zitierte Heimatvertriebene aus dem westfälischen Espelkamp-Mittwald den "festlichen Umzug" erwähnte, so traf er hier auf eine Fernwirkung der preußisch inspirierten Brauchtumsreform aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Mochte ihm dieses Brauchtum von seiner östlichen Heimat her nicht vertraut sein, so freute er sich doch über die Gemeinsamkeit von Flüchtlingskindern und Einheimischen, die sich daraus ergab, daß man Martins Tat der Barmherzigkeit eine zeitgemäße Konkretisierung verlieh.

St. Martin, wie er am Stadttor von Amiens seinen Mantel mit einem frierenden Bettler teilt


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