20.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
05.11.05 / "Gott zur Ehr und zu des Landes Bestem" / Preußen, ein autoritär verformter Staat? - Gerade aus dem preußischen Pietismus erwuchs soziale Verantwortung

© Preußische Allgemeine Zeitung / 05. November 2005

"Gott zur Ehr und zu des Landes Bestem"
Preußen, ein autoritär verformter Staat? - Gerade aus dem preußischen Pietismus erwuchs soziale Verantwortung
von Ehrhardt Bödecker

Eine einflußreiche Quelle preußischer Haltung und Gesinnung erkennen wir im Calvinismus, der in Preußen abgewandelt als Pietismus bekannt geworden ist. Während des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) hatte Deutschland und hier wiederum die Mark Brandenburg die schwersten Erschütterungen und Verluste aller in Europa betroffenen Länder erlitten. Dieser Krieg, der von Frankreich, Schweden und anderen ausländischen Mächten auf deutschem Boden geführt wurde, war die zweite große Katastrophe Deutschlands nach der Pest-Epidemie im 14. Jahrhundert. Über die Hälfte der Bevölkerung war ums Leben gekommen. Ein entscheidender Einschnitt in der deutschen Geschichte, vergleichbar mit der napoleonischen Fremdherrschaft (1806-1814), dem Zweiten Weltkrieg (1939-1945) und der anschließenden Spaltung Deutschlands im Jahre 1945. Brandenburg schien nach 1648 wieder in die Wildnis zurückzufallen. Ein elementarer Bewußtseinswandel hatte bei den Überlebenden stattgefunden. Von Krankheit, Mord und Anarchie entvölkerte, verödete und verwüstete Landschaften auf armen Sandböden sollten wieder kultiviert werden. Die Ernährungslage der Bevölkerung war katastrophal. Kein Vieh, kein Saatgut, nur Wurzeln, Beeren und Kräuter bleiben den Menschen in ihrer bittersten Not, gelegentlich sogar der Verzehr von Kadaverfleisch. Gegen die Zuchtlosigkeit und Rohheit der Zeit entstand die Forderung der Lutheraner wie auch der Calvinisten nach Gebet und Arbeit, nach innerer Läuterung und Erneuerung der Menschen. Zu dieser Läuterung sollten nicht nur die Kirchen, sondern auch die Schulen beitragen. Hieraus erklärt sich die traditionelle Bedeutung der Schulen im Protestantismus. Der Lehrer war Erzieher, nicht nur Wissensvermittler. Während die Lutheraner vordinglich eine Erneuerung und Festigung des inneren Glaubens forderten, sahen die mehr pragmatisch orientierten Pietisten in der Glaubensstärke allein nicht den zur göttlichen Erlösung führenden Weg. Eine asketische und geregelte Lebensführung, Arbeitsdisziplin, Arbeitsamkeit, Bescheidenheit, Gewissenhaftigkeit in der Erfüllung des Berufes, Wahrhaftigkeit und Ehrenhaftigkeit müßten zum gläubigen Leben hinzutreten. Thomas Mann nannte das später "die asketische Idee der Berufspflicht".

Heiligte der englische Calvinismus die Arbeit "für sich" und daher den persönlichen Erfolg als göttliches Zeichen der Erlösung und der Bekehrung des Menschen, ehrte der Pietismus demgegenüber die Arbeit "für andere". Die Bezeichnung Pietismus, ursprünglich ein akademischer Spitzname für Streber und Pedanten, haben die Calvinisten in Halle von den orthodoxen Lutheranern in Leipzig erhalten. Nach Carl Hinrichs entstand aus der Denkweise des englischen Calvinismus der Kapitalismus, aus der des preußischen Pietismus dagegen die soziale Verantwortung. Nicht die westlichen parlamentarischen Staaten, sondern Preußen hat die Bahn gebrochen, wie es Professor Friedrich Meinecke formulierte, für die moderne soziale Versicherungsgesetzgebung. Der soziale Gemeingeist, der im "aufgeklärten" Preußen lebendig war, trug dafür die Verantwortung.

Zwischen den beiden Tatmenschen, dem preußischen König Friedrich Wilhelm I. und dem pietistischen Pfarrer August Herrmann Francke (1663-1727), bildete sich nach anfänglichen heftigen, gegenseitigen Ablehnungen und glaubensmäßigen Unterschieden eine Gesinnungsgemeinschaft heraus, die es

Francke gestattete, eine organische und systematische Bewegung des Pietismus in Brandenburg-Preußen aufzubauen. Francke schuf mit den Franckeschen Stiftungen in Halle ein pädagogisches Großunternehmen, das Mitte 1720 von nicht weniger als 2200 Jungen und Mädchen besucht wurde. Zum ersten Mal wurden auch Mädchen schulisch ausgebildet. Sie lernten Rechnen, Lesen und Schreiben und wurden auf einen Beruf vorbereitet. Es wird für Preußenkritiker sicherlich schwer zu akzeptieren sein, daß ausgerechnet Preußen der erste Staat war, der sich schon Anfang des 18. Jahrhunderts der schulischen und beruflichen Förderung von Mädchen angenommen hat.

Auf Anregung von Pädagogen der Franckeschen Stiftung verordnete Friedrich Wilhelm I. im September 1717 die allgemeine Schulpflicht, oder zutreffender zunächst die allgemeine Unterrichtspflicht, weil es noch an ausreichendem Schulraum mangelte. Gleichwohl ein zentrales Datum für die europäische Bildungsgeschichte. Unter Friedrich dem Großen hat 1764 ein Zögling der Franckeschen Stiftung, nämlich Johann Julius Hecker, im General-Land-Schulreglement den Einfluß der pietistischen Pädagogik auf das preußische Schulwesen begründet. "Gott zur Ehr und zu des Landes Bestem" lautete die Maxime dieses Ausbildungssystems. Dieses Reglement stellte die mordernste pädagogische Regelung der damaligen Zeit dar. Es mutet noch heute wie ein modernes pädagogisches Regelwerk an.

Das Potsdamer Militärwaisenhaus und die preußische Kadettenanstalt nahmen sich das Franckesche Waisenhaus zum Vorbild. Ihr Lehrerkollegium bestand vorwiegend aus Erziehern, die in Halle ausgebildet worden waren. Beamte und Theologen rekrutierten sich überwiegend aus Zöglingen der halleschen Anstalten oder aus Männern, die von halleschen Zöglingen unterrichtet worden waren. Auf diese Weise verbreitete sich der pietistische Geist in Preußen, er durchdrang den preußischen Staat und bestimmte den allgemein verbindlichen Verhaltenscodex. "Das Franckesche System sorgte nicht nur für einen allgemeinen Aufschwung des Schulwesens, sondern befruchtete auch das Wirtschaftsleben nachhaltig. Er sorgte dafür, daß über Halle hinaus der sozialen Fürsorge verstärkte Beachtung geschenkt wurde. Aus einer religiösen Bewegung erwuchs in Preußen dank der Förderung durch die beiden ersten Könige eine auf das Gemeinwohl fixierte ‚Ideologie', ohne deren sittliche Kraft der Aufstieg dieses Staates aus dem Schatten der Geschichte ins europäische Rampenlicht kaum denkbar gewesen wäre" (Duchhardt).

Der Zusammenhang von preußischem Pietismus und Sozialer Marktwirtschaft wird in einem anderen Kapitel näher behandelt, hier genügt ein kurzer Hinweis: Professor Dr. Wilhelm Röpke (1899-1966), Lehrer Ludwig Erhards und einer der drei geistigen Väter der Sozialen Marktwirtschaft, schrieb 1958 in seinem Buch "Jenseits von Angebot und Nachfrage": "Kein Lehrbuch der National-ökonomie kann die Bedingungen ersetzen, auf denen das Ethos der Marktwirtschaft ruhen muß. Selbstdisziplin, Gerechtigkeitssinn, Ehrlichkeit, Fairneß, Ritterlichkeit, Maßhalten, Gemeinsinn, Achtung vor der Menschenwürde des anderen, feste sittliche Normen - das alles sind Dinge, die die Menschen bereits mitbringen müssen, wenn sie auf den Markt gehen und sich im Wettbewerb miteinander messen. Sie sind die unentbehrlichen Stützen, die vor Entartung bewahren. Familie, Kirche, echte Gemeinschaften und Überlieferung müssen sie damit ausstatten. Die Menschen müssen unter Bedingungen aufwachsen, die solche moralischen Überzeugungen begünstigen." Genau das ist die preußisch-pietistische Haltung. Man kann sie nicht besser beschreiben.

Beim Fußballspiel spricht man von "mannschaftsdienlichem" Verhalten eines Spielers, wenn er sich zurücknimmt und einem anderen Spieler, der sich in günstigerer Position befindet, den Ball überläßt. Die Rücksichtnahme auf den Gesamterfolg, auf das "gemeinsame Wohl", hat nicht das Geringste mit "autoritärer Verformung" des einzelnen zu tun, sie ist vielmehr das religiös geforderte "mannschaftsdienliche" Verhalten des Bürgers, das er nach Möglichkeit schon in der Jugend lernen sollte. Tugend ist nicht angeboren, sie muß erlernt werden, lehrte Christian Thomasius (1655-1728), Rechtsprofessor in Halle. Diese Haltung beruht auf Freiwilligkeit, auf Grund innerer Einsicht, nicht auf äußerem Zwang. Es ist die Befolgung des von Immanuel Kant aufgestellten "kategorischen Imperativs". Nächstenliebe und Menschlichkeit, nicht autoritäre Unterdrückung - auch Strenge kann übrigens eine Form von Menschenliebe sein -, bestimmten das Leben des August Hermann Francke. In seinen Überzeugungen hatte er segensreich gewirkt und für die in Armut und Verzweiflung lebenden Menschen mehr erreicht, als wenn er ihnen nur die Suche nach dem "eigenen Glück" gepredigt hätte. Denn häufig ist des einen Glück des anderen Unglück. "Einzelne Rechte und Vorteile der Bürger müssen den Rechten und Pflichten zur Beförderung des gemeinschaftlichen Wohls nachstehen", so heißt der berühmte Satz in II/§ 74 des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten von 1794, und an anderer Stelle wird jedes "Mitglied des Staates" verpflichtet, das Wohl und die Sicherheit des gemeinen Wesens nach seinen Möglichkeiten zu unterstützen. Dazu gehört, daß die Eltern schuldig sind, ihre Kinder zu brauchbaren Mitgliedern des Staates, in einer nützlichen Wissenschaft, Kunst oder Gewerbe vorzubereiten. Der Franckesche Pietismus und die Gedanken der Aufklärung wurden zur preußischen Staatsräson, daher war es folgerichtig, daß sie gesetzgeberisch ihren Niederschlag gefunden haben.

Francke lehrte seine Schüler und Schülerinnen nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen, sondern mehr noch Eigenständigkeit, Pflichterfüllung, Pünktlichkeit, Nächstenliebe und persönliche Anspruchslosigkeit. Diese Erziehungsgrundsätze wurden in der Armee, der Verwaltung, den Schulen und auch in der Wirtschaft zu den bestimmenden Verhaltensregeln Preußens. Israelische, englische und auch amerikanische Militärhistoriker bewundern immer noch die äußerst erfolgreiche Auftragstaktik der preußischen Armee. Sie entstand aus den Franckeschen Erziehungsmaximen von Eigenständigkeit und Pflichterfüllung. Eigenständigkeit bedeutete in der Armee Entscheidungsfähigkeit "vor Ort". Dieser Grundsatz war das Merkmal der preußischen Auftragstaktik, der sowohl Offiziere wie auch Unteroffiziere unterlagen. Sie setzte Fähigkeit und Sachkunde voraus. Im übertragenen Sinne fand dieses Prinzip auch in der Verwaltung Anwendung. Ein preußischer Regierungsrat verfügte nicht nur über das erforderliche Fachwissen, sondern er war auch fähig und berechtigt, "vor Ort" zu entscheiden. Gleiches traf auf den preußischen Landrat zu. Es waren die sprichwörtlich kurzen Entscheidungswege der preußischen Verwaltung. Effektiv und sparsam. Das Festhalten an diesen Prinzipien, mit den notwendigen Anpassungen im Verlauf der Jahrhunderte, führte auch zu der einmaligen Leistungsbereitschaft der preußischen, später der deutschen Verwaltung. Viele der Erfolge in Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft des deutschen Kaiserreiches gehen auf diese geistigen Grundlagen der Halleschen Universität und der Franckeschen Stiftungen zurück. In seiner Vergleichsstudie aus dem Jahre 1905 stellte Professor Arthur Shadwell aus London fest: "In Deutschland ist den Behörden vor Ort mehr Spielraum überlassen als in England oder in den USA. Das Ziel wird festgelegt, aber über die Mittel zur Erreichung desselben kann von der örtlichen Behörde frei entschieden werden." Man muß hinzufügen, nach Abstimmung mit dem Bürger und unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten konnte und sollte der Bürgermeister, der Landrat oder ein Regierungsrat entscheiden. Sah so ein obrigkeitlicher, autoritär verformter Staat aus? "Ohne die Hilfe einer tüchtigen ehrlichen Bürokratie hätte sich die deutsche Wirtschaft nicht zu dem entwickeln können, was sie wurde" (Bertrand Russell).

Auszug aus: Ehrhardt Bödecker: "Preußen und die Wurzeln des Erfolges", Olzog, München 2005, geb., 376 Seiten, 22 Euro

Ehrhardt Bödecker, Anwalt und Bankdirektor, gründete 2002 das Preußenmuseum in Wustrau

 

Pionier: Der Geistliche August Hermann Francke (1663-1727) hatte die Franckesche Stiftung in Halle als Armen- und Waisenanstalt aufgebaut und entwickelte sie zu einer Schulstadt mit 50 Gebäuden, in der Arme, Bürgerliche und Adlige nach modernen Methoden unterrichtet wurden. Die Stiftungen werden heute als pädagogische und kulturelle Begegnungsstätte wiederbelebt.


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren