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19.11.05 / "Die Wolken haben den Mond gefressen ..." / Der germanisch-deutsche Volksglaube von der Wilden Jagd beeinflußte auch Dichter und Komponisten

© Preußische Allgemeine Zeitung / 19. November 2005

"Die Wolken haben den Mond gefressen ..."
Der germanisch-deutsche Volksglaube von der Wilden Jagd beeinflußte auch Dichter und Komponisten
von Manfred Müller

Die Wiederkehr der Toten - dieser Kern uralten keltischen Volksglaubens - scheint durch die überdrehten Formen hindurch, welche die Halloween-Bräuche in den USA angenommen haben, wohin sie mit irischen Einwanderern gelangt waren. Von dort schwappten die skurrilen Bräuche und ihre Vermarktung nach Europa zurück. Eine Entsprechung finden die Halloween-Geisterumzüge im germanisch-deutschen Volksglauben der Heiligen Zwölf Nächte (Rauhnächte), die - unterschiedlich nach Landschaften - vom Thomastag

(21. Dezember) bis Neujahr oder Weihnachten bis zum Dreikönigsfest (6. Januar) angesetzt werden. Unsere Vorfahren nahmen an, zur Wintersonnenwende stehe das Sonnenrad still. In dieser Zeit um die Wintersonnenwende zogen die Götter durch die Menschenwelt. Das ehrfurchtvolle Schaudern vor dem Numinosen verwandelte sich in Angst und Grauen, als die Götter von den christlichen Missionaren zu Dämonen erklärt wurden, die das Luftreich durchschweifen. Im Volksglauben erinnern an diese Götter- und Dämonenumzüge noch die zahlreichen Speisegebote und -verbote, die Abwehrzauber und die Tätigkeitsverbote für die Zeit der Rauhnächte.

An der Spitze der Umzüge standen ein oder mehrere Götter / Dämonen. Besonders stark wurde die Phantasie des Volkes durch das meist nächtliche Treiben des Wütenden Heeres beeindruckt. Ein gespenstischer Reiter braust im Sturmwind mit einem Heer toter Krieger durch die Lüfte. Zahlreiche Mythenforscher und Volkskundler sehen in diesem Reiter den germanischen Wind-, Kriegs- und Totengott Wodan / Odin. Dabei stützt man sich gerne auf eine Notiz bei Adam von Bremen aus dem

12. Jahrhundert: "Wodan, id est furor" (Wodan, d. h. Wut). Wohl im Zuge der christlichen Dämonisierung des Gottes mischten sich in die Züge des Wütenden Heeres immer stärker Züge einer Wilden Jagd: ein Wilder Jäger rast mit gespensterhaften Jagdbegleitern und Hunden durch die Lüfte. (In Ostpreußen war es der Schimmelreiter mit seinem Gefolge, der die Gegend mit oft derbem Schabernack unsicher machte; Anm. d. Redaktion). In der Sagenüberlieferung mancher Gegenden stehen weibliche Gestalten an der Spitze der Geisterumzüge: Frau Hulda (Holla, Holle), Frau Perchta, Frau Saelde usw. Solche Motive fanden Eingang in Goethes berühmte Ballade "Der getreue Eckart".

Die Brüder Grimm nahmen 1818 einige Sagen zum Motiv Wilde Jagd in ihre große Sagensammlung auf. Carl Maria von Weber läßt in seiner deutschen Nationaloper "Der Freischütz" (1821) den Wilden Jäger (hier: der teuflische Samiel) beschwören. Beim Gießen von Freikugeln in der Wolfsschlucht zieht das Wilde Heer vorüber. Der spätromantische französische Komponist César Franck konkurriert zu dieser musikalischen Szene mit seiner Tondichtung "Der Wilde Jäger".

Eine Wendung ins Politische erfuhr das Motiv der Wilden Jagd durch Theodor Körner, den Dichter der Befreiungskriege. In seinem Kriegslied "Was braust dort vom Walde im Sonnenschein" verherrlicht der 1813 gefallene Körner das Freikorps Lützow, in dessen Reihen er focht. Die Schlußstrophe dieses Liedes, das durch die geniale Vertonung Carl Maria von Webers bis in unsere Tage lebendig geblieben ist, beginnt mit dem Appell: "Die wilde Jagd und die deutsche Jagd auf Henkersblut und Tyrannen!" Der Kampf-Furor von Wodans geisterhaftem Gefolge soll sich nun durch die "schwarzen Gesellen" des Freikorps gegen die französische Fremdherrschaft richten und das Vaterland befreien: "Und von Enkeln zu Enkeln sei's nachgesagt: Das war Lützows wilde verwegene Jagd!"

Es hat nicht an Versuchen gefehlt, die Entstehung der Sagen von der Wilden Jagd aus mythen- und religionsgeschichtlichen Zusammenhängen herauszulösen. Viel Aufsehen erregte zum Beispiel der Sagenforscher Fried-rich Ranke mit seinem medizinisch-psychologischen Deutungsmodell. Er ging von einer bayerischen Sage aus, die von einem Mann erzählt, der nachts von der Wilden Jagd mitgenommen wurde und sechs Wochen verschwunden war. Die Sage von der Fahrt durch die Luft mit dem Wilden Heer deutete Ranke als "Reise eines Epileptikers in seinem Dämmerzustand". Ein solches Erlebnis habe zur Sagenbildung geführt.

Über derartige Erklärungsversuche hat es ungezählte gelehrte Kontroversen gegeben. Unbelastet vom Gelehrtenstreit hat sich ein bekannter baltendeutscher Dichter des 20. Jahrhunderts dem Sagenkomplex um die Wilde Jagd genähert. 1927 veröffentlichte Werner Bergengruen "Das Buch Rodenstein". Er ließ sich von der bei Grimm abgedruckten Sage "Rodensteins Auszug" zur Beschäftigung mit der Geschichte des hessischen Rittergeschlechtes Rodenstein anregen und ging in der Heimat der Rodensteiner, dem Odenwald, typischen Sagen nach. Ein Kapitel von Bergengruens Buch heißt "Das wütende Heer". Der Ich-Erzähler erlebt im Vorbeizug eines geisterhaften Totenheeres: "Die Wolken haben den Mond gefressen, alles Glockenschlagen ist ertrunken im Geheul. Hörst du sie rufen aus dem Sturm, hörst du Kommandogeschrei und Schnauben, hörst du die Drähte wimmern, von Pferdehufen gestreift?"

Das Unerlöste, das Düster-Drohende des Sagenkomplexes um die Wilde Jagd, eingebettet in ein eigentümliches Brauchtumsgemisch aus Naturhaftem und Mythischem, Heidnischem und Christlichem, steht im Kontrast zu den vom christlichen Weihnachtsmysterium durchstrahlten Bräuchen. Wo diese bis zum Dreikönigstag hin allzu sehr verkitscht, banalisiert und vermarktet werden, mag die Hinwendung zur Wilden Jagd ein wenig therapeutischen Charakter gewinnen.

In "Der Freischütz" zieht das Wilde Heer vorüber, Die Wilde Jagd contra Weihnachtskitsch?


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