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26.11.05 / Standardwerk über ostpreußische Güter / Wulf Wagner setzt mit neuem ausführlichen und anschaulichen Buch über die Gutshöfe des Kreises Heiligenbeil Maßstäbe

© Preußische Allgemeine Zeitung / 26. November 2005

Standardwerk über ostpreußische Güter
Wulf Wagner setzt mit neuem ausführlichen und anschaulichen Buch über die Gutshöfe des Kreises Heiligenbeil Maßstäbe
von Ulrich Kühn

So, mein Junge, nun wollen wir zusammen gehen durch all das Vielgeliebte, wo ich die glücklichsten Jahre meines Lebens verbracht habe und wo mein Herz noch mit allen Fasern verwurzelt ist", erzählt Jutta Drews, Gutsherrin von Hanswalde. Und sie schildert ihren Gang durch die weiten Ländereien und den duftenden Park, beschreibt liebevoll die zutraulichen Jungtiere in den Ställen, schreitet durch das Herrenhaus, Zimmer für Zimmer, zeigt Bilder, Möbel, Spielzeug und weckt die Erinnerung an all die Menschen, die diese abgeschiedene Welt mit Leben erfüllten. Jutta Drews schrieb diese malerische Schilderung nach dem Krieg für ihren jüngsten Sohn - damals war das Gut unerreichbar, heute ist es verschwunden. Die detaillierte Beschreibung durch die einstige Gutsherrin zählt zu den bewegendsten Partien des Buches "Die Güter des Kreises Heiligenbeil in Ostpreußen" von Wulf D. Wagner.

Das Werk ist die ausführlichste und anschaulichste Arbeit, die bisher über ostpreußische Güter verfaßt wurde. Die 131 behandelten Güter können als typisch für ganz Ostpreußen gelten. Dabei haben zeitaufwendige Aktenauswertung, zeichnerische Rekonstruktion, Zeitzeugenberichte und 740 Fotos ein beachtliches Buch von 560 Seiten ergeben.

Der Kreis Heiligenbeil am Frischen Haff verfügte über eine Vielfalt an Gütern, die historisch die ganze ostpreußische Geschichte abdecken. Angefangen hatte es mit den frühen Ordensburgen Balga und Brandenburg, die als Domänen Jahrhunderte Bestand hatten, sowie mit den Dienstgütern zu kölmischem Recht, die den bekehrten Prußen übertragen wurden, meist auf ihrem angestammten Land. Der Kreis Heiligenbeil wies eine Reihe dieser Uraltbesitze auf, die bis in unsere Zeit bestanden (Lindenau, Sperwienen, Schettnienen unter anderem). Deutsche Adelsgeschlechter aus dem Westen siedelten sich erst im 15. Jahrhundert in größerer Zahl in Preußen an, als sie für ihre Söldnerdienste Land zum Lehen erhielten. Güter in unserem Sinne waren dies noch nicht, sondern untertänige Dörfer, in denen erst im Laufe der Zeit Vorwerke eingerichtet wurden, von Bauern und Gesinde bewirtschaftet. Mehr und mehr gingen aber ab dem 16. Jahrhundert die Besitzerfamilien dazu über, aus der Stadt auf ihr Land zu ziehen und sich selbst um den Betrieb zu kümmern. Die Herrenhäuser jener Zeit waren allerdings nicht mehr als große Bauernhäuser: Bohlen- und Fachwerkbauten mit Strohdach.

Das Herrenhaus, wie wir es kennen und wie es bis in heutige Fernsehfilme das Bild prägt, entstand im 17. Jahrhundert: ein breiter eingeschossiger Bau mit hohem Dach, aus dem in der Fassadenmitte ein Dreifenstergiebel vorragt. Aus dieser frühen Zeit besaß der Kreis Heiligenbeil eine Anzahl schlichter Gutshäuser, die sich bis 1945 fast unverändert erhalten hatten: Tengen, Arnstein, Hohenwalde, Pellen unter anderem, wobei die beiden letzten noch eine urtümliche Dreiflügelanlage bewahrten.

Das 18. Jahrhundert kann im Kreis Heiligenbeil mit zwei schmucken Landschlössern hochadliger Besitzer aufwarten, dem Jagd- und Lustschloß Charlottenthal des Herzogs von Holstein-Beck und dem Schloß Lindenau des Reichsgrafen Seeguth-Stanislawski. Lindenau fiel 1774 an den späteren Herzog Friedrich Carl von Holstein-Beck, der sich leidenschaftlich um die Landwirtschaft kümmerte und die Umsetzung der Erkenntnisse des Agrarwissenschaftlers Albrecht Thaer unternahm. Hiermit setzt eine Entwicklung ein, nicht nur das Herrenhaus um- oder neu zu bauen, sondern den ganzen Gutsbetrieb auf die Höhe der wissenschaftlichen Entwicklung zu bringen. Ein Bemühen, das im 20. Jahrhundert existenznotwendig wurde, als nicht wenige Güter scheiterten und aufgesiedelt wurden, was ironischerweise die Umkehrung der Ursprungstendenz bedeutete und aus Gütern wieder Dörfer machte.

Wulf D. Wagner gelingt es in einem umfangreichen Einführungskapitel, die geschichtliche Entwicklung der ostpreußischen Gutsherrschaften und die Architektur der Herrenhäuser mit der Geschichte Preußens zu verknüpfen, so daß eine schlüssige Darstellung entsteht, die Fachleute und Laien gleichermaßen fesselt. Je weiter diese Abhandlung ins 20. Jahrhundert schreitet und Zeitzeugendokumente in die Darlegungen einflechten kann, wird sie spannend wie ein Roman.

Den Hauptteil von Wulf D. Wagners Buch nimmt die Darstellung der einzelnen Güter ein. Jedes wird nach Möglichkeit in seiner grundherrschaftlichen Geschichte, seiner Besitzerfolge, seiner Gebäudeentwicklung und seiner Inneneinrichtung ausführlich behandelt. Die Auswertung der Archivalien hat erstaunliche Ergebnisse zutage gefördert vom Mittelalter bis in die neuere Zeit, zum Beispiel Pachtverträge mit pedantischen Anweisungen ("ob sie den Mist von den Gebäuden und Schwellen, weitgenug wegwerffen"), umfangreiche Inventarlisten wie ein Einrichtungsverzeichnis von 1736 aus Schettnienen (ein "Gläser Winckel-Tischchen", ein mit Pflaumenholz eingelegtes "Leinen-Schaffchen", ein gestreifter Leinwandvorhang für eine Bettstelle für eine Person und vieles mehr) oder zahlreiche Fakten zu dem Eifersuchtsverbrechen an einer Gutsherrin im Jahre 1570. Es ist erstaunlich, daß die Archive noch so viel Unentdeck-

tes bergen, das hier zum ersten Mal veröffentlicht wird. Alle Ausführungen sind genauestens durch Quellenangaben belegt, vielfältige Literaturhinweise runden jedes Kapitel ab. Wagners Buch ist zweifellos eine wissenschaftliche Arbeit von hohem Rang. Keine ernsthafte Beschäftigung mit dem Thema "Güter" wird an diesem Buch künftig vorbeigehen können. Daß das Buch trotzdem auch für den Laien interessant ist, liegt an der anschaulichen, verständlichen Darstellung (Anhang mit Erläuterung der Fachbegriffe) und den zahlreichen Abschnitten, in denen die früheren Bewohner zu Wort kommen.

Dieses unmittelbare Erleben durch Berichte und Briefe ist in den Schlußpartien der Güterkapitel sehr intensiv, wenn die Kriegsereignisse 1944/45 über die Anwesen hereinbrechen und die Menschen von ihrer Heimstatt reißen. Hier ist das Buch am ergreifendsten.

Wulf D. Wagner hat von vielen Herrenhäusern detailgenaue Grundrisse angefertigt, die auch die Möblierung dokumentieren, bis hin zu Materialien, Farben und Stoffmustern. Wer sich in diese Zeichnungen selbst noch der Wirtschaftsräume und Dienstbotenzimmer vertieft, kann leicht in die Arbeitsabläufe und Lebensweisen solcher viele Personen umfassenden Haushalte eindringen. Hilfreich ist die Fülle an Fotos (auch zahlreiche Innenaufnahmen und Parkansichten), wenngleich man sich das eine oder andere Foto ruhig größer gewünscht hätte.

Wagner widmet Mythos und Wirklichkeit des ostpreußischen Gutes ein eigenes Kapitel. Zum Mythos gehört sicher auch die Figur des exzentrischen Gutsherrn. Für ihn finden sich im Buch einige filmreife Belege wie Hippolyt von Simpson, der sich seine Kutsche mit vier Pferden im Güterzug nach Berlin kommen ließ, um in ihr eine Spazierfahrt im Tiergarten zu unternehmen, und sie anschließend per Bahn wieder nach Hause schickte. Oder der Kammerherr von Korff, der während einer Gesellschaft seine Gattin mit einem Regimentskameraden verlobte und nach seiner Scheidung mit beiden zusammenlebte, bis sie alle drei in einem eigens für sie gebauten Mausoleum ihre letzte Ruhe fanden.

Das Mausoleum stand bis 1945 im Park von Rippen. Es ist heute zerstört, zusammen mit der in ihr aufgestellten Marmorstatue von Christian Daniel Rauch. Zerstört sind mit den Gutshäusern deren unschätzbare Einrichtungen (unter anderem Möbel aus dem Zarenhaus), Kunstwerke, archäologische Fundstücke und ganze Gutsarchive mit mittelalterlichen Urkunden. Das Buch "Die Güter des Kreises Heiligenbeil" bewahrt sie vor dem Vergessen.

Das Buch wurde, wie dem Vorwort zu entnehmen ist, in einem vorgesteckten Zeitrahmen fertiggestellt. Das wird der Grund sein, daß es zu einem Personenverzeichnis nicht mehr kam, was bedauerlich ist. Vielleicht findet sich jemand, der es anfertigt und im "Heimatblatt des Kreises Heiligenbeil" veröffentlicht. Trotzdem ist das Buch ein Wissensquell erster Güte und wird aufgrund finanzieller Förderung durch die Heiligenbeiler Kreisgemeinschaft zu einem moderaten Preis angeboten.

Wulf D. Wagner: "Die Güter des Kreises Heiligenbeil in Ostpreußen", herausgegeben von der Kreisgemeinschaft Heiligenbeil

e. V., 560 Seiten, 740 Fotos, 36 Euro. Zu beziehen über den Preußischen Mediendienst oder Kreisgemeinschaft Heiligenbeil e. V., Georg Jenkner, Lenauweg 37, 32758 Detmold, Telefon (0 52 32) 8 88 26, Fax (0 52 32) 69 87 99, E-Mail: Georg.Jenkner@gmx.de.


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