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10.12.05 / "Ich hätte als Christ handeln müssen" / Hans-Joachim Selenz über das Leben und den Tod seines in Königsberg geborenen Vaters

© Preußische Allgemeine Zeitung / 10. Dezember 2005

"Ich hätte als Christ handeln müssen"
Hans-Joachim Selenz über das Leben und den Tod seines in Königsberg geborenen Vaters

Mein Vater, Werner Selenz, wurde am 9. April 1921 in Königsberg geboren. Wie viele Schüler seiner Generation mußte er bereits als Jugendlicher in den Krieg ziehen. Ob er wollte, oder nicht. Er wurde Pionier, war als Offizier in Norwegen. Verwundet an Leib und Seele überlebte er. Die Kriegstraumata verließen ihn nie. Er blieb verschlossen, in sich gekehrt, sein Leben lang.

Der Verlust von Jugend und Heimat traf ihn, wie Millionen andere. Ein typisches Kriegsschicksal. Seine Heimat, Ostpreußen, vergaß er nie. Nach 1945 verschlug es ihn nach Nordhessen. Sein Berufswunsch, Förster, erfüllte sich nicht. Er wurde Lehrer. 1950 heiratete er seine Kollegin Helga Brede, meine Mutter. 1951 kam ich, 1954 meine Schwester Eva-Maria auf die Welt. Im kleinen Dorf Haddamar bei Fritzlar wurde er „Schulmeister“.

Er unterrichtete alle Kinder des Ortes. In einem Klassenraum. Einklassige Dorfschule nannte man das. Erstklassigen Unterricht erteilte mein Vater. In den ersten vier Klassen war er auch mein Lehrer. Zugegeben, er war streng. Das mußte er sein. 52 Kinder auf acht Klassen verteilt, waren eine Herausforderung. Seine Schüler konnten nach der ersten Klasse lesen.

Er unterrichtete „analytisch“. Das war zu jener Zeit verpönt. Viele Kinder lernten nach der Ganzwort-Methode – und raten noch heute. Vaters Schüler lasen analytisch und präzise. Und rechnen konnten sie auch, wenn sie seine Schule verließen. Bruch- und Prozentrechnung, Zins- und Zinseszins. Im Kopf – was denn sonst.

Er kümmerte sich um Lehrstellen, sprach Handwerksmeister an – fand für alle einen Arbeitsplatz. Er saß nächtelang und korrigierte Arbeiten. In allen Fächern. Er organisierte Klassenfahrten und Sportfeste, arbeitete Lehrpläne aus und schrieb Zeugnisse. Verantwortlich, individuell und korrekt. Für 52 Kinder!

Doch er vermittelte weit mehr als Wissen. Viel mehr. Im Sozialkundeunterricht sprach er ganz offen über den Holocaust. In den 50er Jahren das absolute Tabuthema in deutschen Landen. Er erzählte der Oberstufe – und wir Kleinen in den unteren Klassen hörten aufmerksam zu – es habe in Deutschland Vorgänge gegeben, die ungeheuerlich waren.

„Wenn euch jemand erzählt, den Mord an den Juden habe es nicht gegeben, dann sage ich euch: Der Mann lügt! Ich selbst habe einen SS-Offizier gefragt. ,Was macht ihr mit den Juden? Wohin transportiert ihr sie? Siedelt ihr sie in den Osten um?‘ Und der antwortete mir: ,Die Mühe machen wir uns nicht. Wir siedeln sie gleich in den Himmel um.‘ ,Ich hätte als Christ handeln müssen‘, sagte mein Vater. Aber ich hatte Angst um mein eigenes Leben. Wenn ich als einzelner dagegen aufgestanden wäre, hätte man auch mich umgebracht. Es gab keinen, an den ich mich wenden, den man um Hilfe bitten konnte.“

Ein menschenverachtendes System – Mörder ohne Gewissen, ohne Gerichte. Das gab mein Vater seinen Schülern mit auf den Weg. Er machte sich damit wenig Freunde.

Er engagierte sich für die Heimatvertriebenen. Mit seinen Schülern pflegte er Soldatenfriedhöfe. In der Adventszeit sammelten seine Schüler Nahrungsmittel, Süßigkeiten und kleine Geschenke. Die gingen in Paketen in die DDR. „Geschenksendung – keine Handelsware“ stand darauf. Die Briefe aus der DDR las er den Schülern vor.

Er betreute Arbeitsgemeinschaften in Biologie, seinem Lieblingsfach. Er spendete Blut – weit mehr als 50mal und selbstverständlich unentgeltlich. Mit seinen Schülern kümmerte er sich um die Sauberkeit öffentlicher Einrichtungen. Er vertrat als Lektor die Pastoren der Umgebung, arbeitete als Schöffe vor Gericht. Gerechtigkeitsfanatiker privat und im Dienst. Ruhelos bemüht, gleichsam etwas abzuarbeiten.

Über seine Kriegs-Albträume sprach er nicht. Auch seine engste Umgebung ließ er nie wirklich an sich heran.

Nach dem Wechsel an die Großschule verlor er den Spaß an der Schul-Arbeit. Das war nicht mehr sein Ding. Lehren und lernen waren für ihn – auch – eine Frage der Disziplin. Einer jungen Kolle-gin, die weinend vor ihrer lärmenden Klasse stand, half er, indem er nur den Raum betrat.

Er quittierte den Schuldienst und zog sich noch weiter in sich zurück. Ein deutsches Kriegsschicksal.

Am 1. Dezember 2005 verstarb mein Vater in Gudensberg / Nordhessen. Verschlossen bis zuletzt.


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