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24.12.05 / Dämmrige Zwischenwelt / Vom Verschwinden der Dachböden und dem damit verbundenen Verlust

© Preußische Allgemeine Zeitung / 24. Dezember 2005

Dämmrige Zwischenwelt
Vom Verschwinden der Dachböden und dem damit verbundenen Verlust
von Steffen Heitmann

Im November vorigen Jahres sind wir umgezogen. Mehr als 20 Wohnungen hatten wir zuvor besichtigt. Dabei fiel uns eine moderne Merkwürdigkeit auf: Es gibt bei uns keine Dachböden mehr. In Neubauten werden sie gar nicht mehr vorgesehen, in Altbauten sind sie inzwischen bis zum letzten Quadratmeter zu Wohnungen ausgebaut, selbst wenn ein Mensch von normaler Größe sich nur an einigen Stellen ganz aufrichten kann. Jetzt wohnt also über uns, dort wo früher der Dachboden war, eine Familie.

Erst durch diese Erfahrung ist mir jetzt bewußt geworden, wie bedeutsam das Vorhandensein von Dachböden für das Welterleben und für das Lebensempfinden ist. Ich bin in einem großen Mietshaus aufgewachsen; in dessen Erdgeschoß und den drei Etagen darüber befand sich jeweils eine Wohnung mit sieben Zimmern. Im Keller lagen eine Werkstatt und eine Hausmeisterwohnung sowie zahlreiche Kohlen- und Vorratsräume.

Über der dritten Etage erstreckte sich ein weiträumiger Dachboden. Der große Mittelteil, gesäumt von den Säulen der gemauerten Schornsteine, war im wesentlichen leer und diente vor allem dem Wäschetrocknen. Eine steile Leiter lockte zum Austritt auf die Bretter, die eigentlich nur dem Schornsteinfeger vorbehalten waren. Die umliegenden, vielfach verwinkelten, balkenreichen Bretter- und Lattenverschläge, teilweise nur mühsam einsehbar und verschlossen, wurden zum Abstellen momentan oder überhaupt nicht mehr benötigter Gegenstände genutzt.

Gewiß, auch der Keller war Objekt unserer Neugier und barg mancherlei Geheimnisse. Aber das Dunkle, Dumpf-Muffige, das er darbot, gab ihm von vornherein eine gewisse Inferiorität. Die Anziehungskraft des Dachbodens, im Familienjargon einfach "Boden" genannt, war ungleich größer. Schon die hölzerne, um ein Viertel verdrehte Treppe stimmte ein auf die dämmrige Zwischenwelt, die einen erwartete.

Man wußte die geordnete Wohnwelt unter und den freien Himmel über sich, blieb mit beidem verbunden und doch davon getrennt. Obgleich man sich in einem geschützten Raum wähnte, blieben Hitze und Kälte elementar erlebbar. Die geheime, weil verbotene, Aussicht aus dem Dachfenster gestattete einen Blickwechsel auf die bekannte Lebensumwelt und machte sie zum Mittelpunkt eines weiten Horizonts. In solchen Zwischenräumen wächst Phantasie, die Voraussetzung von Kreativität. Solche Zwischenräume prägen unser ambivalentes Lebensgefühl.

Welch nachhaltigen biografischen Eindruck Dachböden hinterlassen können, ist besonders in den Lebenserinnerungen aus dem 19. Jahrhundert nachzulesen, als den Hausböden auch als Speicher große Bedeutung zukam. Und manchmal frage ich mich, ob wohl Theodor Fontane ein so wunderbarer Schriftsteller geworden wäre, wenn er nicht durch die Schule der Phantasie gegangen wäre, die das alte Apothekerhaus in Swinemünde mit seinen fünf Dachböden für ihn bedeutete.

Wenn wir bei unserer Wohnungssuche auf die Wünschbarkeit eines Dachbodens hinwiesen, wurde uns in der Regel erwidert, bei den Dingen, die man dort ablege, stelle sich meist nach Jahren heraus, daß man sie nicht vermißt habe und sie deshalb entbehrlich seien. Nun, auch in meiner Wohnung umgebe ich mich mit vielen Dingen, die ich im vordergründigen Sinne "nicht brauche", die aber doch einen Teil meines Lebens ausmachen. Und gerade ein Umzug, bei dem lang verborgene Zeugnisse der Familiengeschichte oder der eigenen Biographie wieder vor Augen treten, zeigt, welch Lebensreichtum in dem Verwahrten ruhen kann.

Ich zehre noch heute von den vielen Tagen, die ich - oft gescholten, warum ich nicht "an der frischen Luft" sei - auf dem Boden meiner Kindheit verbrachte. Zeitweise richtete ich mir dort eine Art faustische Studierstube ein, hängte - in einer botanischen Phase - Heilkräuter zum Trocknen auf, verschlang - in meiner Indianerphase - trotz tropischer Hitze pro Tag ein Karl-May-Buch.

Die Firmennamen auf der alten Geschäftspost meines Großvaters sind mir noch heute vertraut. Überraschungen aus alten Familienpapieren irritierten mich. Die Kiste einer Tante enthielt die jahrgangsweise gebundenen Hefte der "Filmwelt", die mir eine ganz fremde und verlockende Welt erschlossen. Spielzeug und Bücher aus der Jugendzeit meiner Mutter waren interessanter als alle zeitgenössischen Geschenke.

Nun also leben wir ohne Dachboden. Wir verkraften das; die Kinder sind erwachsen und hatten ihr Boden-Erlebnis. Aber mir erscheint das Verschwinden der Dachböden durchaus als ein kultureller Verlust. Und ich rufe allen zu, die noch nicht den letzten Winkel ihres Hauses renditeträchtig ausgebaut haben: Erhaltet euren Dachboden und laßt gelegentlich eure Kinder darauf spielen!

Steffen Heitmann ist Mitherausgeber der Wochenzeitung "Rheinischer Merkur", in der dieser Artikel erschien. Heitmann, der von 1990 bis 2000 Sächsischer Staatsminister für Justiz war, war 1993 als CDU-Kandidat für das Bundespräsidentenamt im Gespräch.

Fundgrube oder Rumpelkammer: Dachböden beherbergen so manche Erinnerung.


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