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31.12.05 / Abschied und Neubeginn / oder Wenn das alte und das neue Jahr einander begegnen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 31. Dezember 2005

Abschied und Neubeginn
oder Wenn das alte und das neue Jahr einander begegnen
von Gabriele Lins

Am letzten Tag im Dezember saßen das alte und das neue Jahr auf einer Wolke beisammen. Hin und wieder warfen sie einen Blick auf die Erde, wo es überall zischte und krachte. Der ungeheure Lärm drang ihnen schmerzhaft in die Ohren. Sie sahen auch Leuchtzeichen in wundersamen Sternenformen aufzucken und gleich wieder erlöschen.

Das neue Jahr, klein und zierlich noch, sah aus wie ein frisch gewaschener Engel. Es zappelte neben dem alten Jahr, das müde und ausgelaugt wirkte, hin und her und ließ die Beine baumeln.

„Die Menschen grüßen mich“, sagte das alte Jahr mit leiser Stimme, „und das erfreut mein altes Herz.“

„Nein, sie feiern mich als ihren Anfang“, erwiderte das neue Jahr und winkte mit beiden Armen in Richtung Erde.

„Sie feiern uns beide, das Ende und den Anfang, Kind.“ Das alte Jahr packte den kleinen Wirbel liebevoll am Kragen. „Paß auf, daß du nicht zu früh hinunterfällst. Es ist noch nicht 12 Uhr, und bis dahin gedenken die Menschen ihrer vergangenen Tage, und die wollen sie entweder betrauern oder mit Getränken begießen, je nachdem wie schlecht oder gut sie waren. Erst wenn sie damit fertig sind, können sie an dich denken. Dann stoßen sie noch einmal mit ihren Gläsern an, wünschen sich Gutes und hoffen, daß ihnen das neue Jahr Glück bringt. Was sie aber eigentlich meinen ...“

„Sieh mal, wie toll“, rief das neue Jahr dazwischen, „da unten ist gerade ein besonders schöner rotgoldener Stern aufgegangen! Wie er glüht und zischt! Oooh, jetzt ist er schon erloschen!“

„Was die Menschen eigentlich meinen mit ihren Feiern“, redete das alte Jahr unbeirrt weiter, „das ist ihre Hoffnung, an die sie sich klammern.“

„Was ist das – Hoffnung?“ Das neue Jahr setzte sich wieder neben das alte und sah aufmerksam zu ihm hoch. „Sie erhält die Menschen am Leben. Selbst wenn es ihnen sehr schlecht geht, so hoffen sie doch immer auf Besserung ihrer Lage. Auch bei mir haben sie gehofft, und nun hoffen sie eben auf dich, das neue Jahr, weil sie denken, daß du ihnen vielleicht mehr Glück bringst als ich ihnen geben konnte.“

„Schön!“ Das neue Jahr nickte. „Ich will den Menschen ganz, ganz viel Segen bringen. Kummer und Leid gibt es bei mir einfach nicht.“

Das alte Jahr lächelte fein. „Genauso habe ich am Anfang auch gedacht, wurde aber schnell belehrt, daß ich ein Nichts bin; und du allein bist auch nichts.“

„Wieso soll ich ein Nichts sein?“ rief das neue Jahr naseweis. – „Ach, guck mal, die Menschen füllen schon ihre Gläser. Ich glaube, es ist soweit. Tschüß, altes Jahr, ich mache jetzt einen Abgang!“

Es nahm einen Anlauf und sprang. Deshalb sah es auch nicht, wie das alte Jahr still zur Seite kippte und von einem Engel aufgefangen wurde. Rasend schnell flog es tiefer und immer tiefer und landete endlich mitten in einem riesigen Gebäude mit länglichen bunten Fenstern. Viele Menschen knieten dort in Bänken und sahen still nach vorne auf ein großes Kreuz. „Hier bin ich, Leute“, rief das neue Jahr und tänzelte hin und her, „freut ihr euch, daß ich da bin?“

Aber die Leute beachteten es nicht. Sie fingen gerade an zu singen und wurden dabei von einem Instrument mit silbernen Pfeifen begleitet, das wunderschöne Töne ausströmte. Die Menschen sangen ein Danklied, aber das war nicht für das alte Jahr und auch nicht für das neue bestimmt, sondern für Gott, ihren Schöpfer.

Da setzte sich das neue Jahr bescheiden in die hinterste Bank und faltete die Hände. „Ich bin eigentlich ein Nichts, wenn Gott mich nicht segnet und mir seine Gaben in den Schoß legt, damit ich sie für die Menschen aus-teile“, sagte es leise, denn gerade war es ihm klar geworden:

Das alte Jahr hatte genau das gemeint.


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