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07.01.06 / Wieder gesellschaftsfähig / Russisch-orthodoxe Kirche erlebt Renaissance – Weihnachtsfest wird groß gefeiert

© Preußische Allgemeine Zeitung / 07. Januar 2006

Wieder gesellschaftsfähig
Russisch-orthodoxe Kirche erlebt Renaissance – Weihnachtsfest wird groß gefeiert
von Martin Schmidt

Rußlands orthodoxe Kirche gehört zu den Hauptleidtragenden der kommunistischen Zwangsherrschaft. In der Sowjetzeit wurden Tausende Priester ermordet, die meisten Kirchen zerstört oder zweckentfremdet und die Kirchenführung ideologisch gleichgeschaltet. Der atheistische Staat arbeitete mit einigem Erfolg auf das Fernziel der Vernichtung alles Religiösen hin.

Der Zerfall des roten Imperiums Ende der 1980er Jahre ermöglichte eine Renaissance der von manchen bereits totgeglaubten Religion im allgemeinen und der in Rußland traditionell eng mit der Staatsmacht verbundenen orthodoxen Kirche im besonderen. Heute bezeichnen sich laut Meinungsumfragen wieder zwischen 60 und 80 Prozent der Bewohner als orthodox. Das Fach Religion soll zum Pflichtfach an den Schulen erhoben werden; Bildungsminister Andrej Fursenko kündigte an, im Jahr 2006 mit Tests beginnen zu wollen. Noch fehle es aber an geeigneten Lehrkräften und Lehrbüchern.

Das Moskauer Patriarchat hatte eine konfessionelle Bindung des neuen Faches mit der Wunschbezeichnung „Grundlagen der orthodoxen Kultur“ gefordert. Das wurde vom Kreml abgelehnt, nachdem insbesondere aus der starken islamischen Minderheit des Landes heftige Kritik geübt worden war. Jetzt soll der Unterricht der konfessionsübergreifenden, religionsgeschichtlichen Wissensvermittlung dienen, wobei Geistliche als Lehrer nicht zugelassen sind. In einigen russischen Regionen steht allerdings schon heute orthodoxer Religionsunterricht auf dem Stundenplan, und zwar im Rahmen des Heimatkunde-Unterrichts.

Bedenkt man, daß im heutigen Rußland schätzungsweise zehn Millionen Muslime leben und andere Konfessionen – vor allem Katholiken und verschiedenste evangelisch-freikirchliche Gruppierungen – wachsenden Zulauf verzeichnen, so ist der Anteil der bekennenden Atheisten gering. Die kommunistische Partei ist fast tot, der Glaube aber lebt, wenngleich die Verfassung von 1993 Rußland als säkularen Staat definiert. Der einstige Status als Staatsreligion, den die Orthodoxie bis zur Oktoberrevolution besaß, konnte nicht erneuert werden. Dennoch betont der Züricher Orthodoxie-Experte Gerd Stricker, daß das Rußland der Nach-Wende-Ära in dem Maße, in dem es sich wieder auf seine vorkommunistische Geschichte besinne und ein neuer Patriotismus zunehmend die Politik bestimme, auch der russisch-orthodoxen Kirche wieder eine wichtige Rolle in der Gesellschaft zuweise und sie „zum Kern einer nationalen Ideologie“ mache.

Wladimir Putin, der im atheistischen Leningrad mit fünf Jahren ohne Wissen des Vaters heimlich getauft worden ist und zu Sowjetzeiten als Geheimdienstoffizier ein Halskettchen mit Kreuz unter dem Hemd trug, ist praktizierender orthodoxer Christ. Immer wieder be-

kreuzigt er sich demonstrativ vor laufenden Kameras, küßt Ikonen und erbittet den Segen des Patriarchen. Die Kirche genießt großes Vertrauen in der Bevölkerung, und es fördert das öffentliche Ansehen, ihr Spenden zu-

kommen zu lassen. Nicht nur der staatliche Gaskonzern Gazprom greift für die Renovierung von Kirchen und Klöstern regelmäßig tief in die Tasche, sondern auch viele der zumeist durch dubiose Geschäfte reich gewordenen „neuen Russen“ unterstützen die orthodoxe Kirche mit erheblichen Finanzmitteln.

Allerdings ist zur Lage des Christentums in Rußland anzumerken, daß die Zahl der Kirchgänger und der gläubigen Menschen – ähnlich wie in Deutschland – unter den offiziellen Mitgliederzahlen liegt und der aus dem Westen importierte kapitalistische Materialismus ebenso wie sein sozialistischer Vorgänger eine religionsferne Grundstimmung fördert.

Dieser Tage ist davon freilich weniger zu spüren als zu anderen Zeiten des Jahres. Denn Rußland feiert sein Weihnachten, das gemäß julianischem Kalender auf die Nacht vom 6. zum 7. Januar fällt. Zahllose Menschen werden dann in die meist prachtvoll ausgestatteten orthodoxen Kirchen gehen, von denen in den zurückliegenden anderthalb Jahrzehnten Tausende renoviert, wiederaufgebaut oder neuerrichtet wurden. Seit dem Umbruch stieg die Zahl der orthodoxen Gemeinden in Rußland von 6000 auf rund 19000, die der Klöster von 18 auf 500 und die der theologischen Lehranstalten von fünf auf 200.

Die Besucher der orthodoxen Weihnachtsgottesdienste erwartet eine nach unseren Vorstellungen schier endlos lange Messe, die ganz von liturgischen Elementen geprägt ist. Kirchenorgeln gibt es keine und auch keine Sitze; allerdings wird auch nicht unbedingt erwartet, daß der Gläubige dem gesamten Gottesdienst beiwohnt.

Vor allem im Vergleich zur Evangelischen Kirche in Deutschland hält die russisch-orthodoxe Kirche an einem strengen Moralkodex fest und lehnt Abtreibungen, Homosexualität und vorehelichen Sex kategorisch ab. Frauen sind zum Priesteramt nicht zugelassen. Im Unterschied zur katholischen Kirche gibt es das Zölibat allerdings nur für Bischöfe und Metropoliten, während von Gemeindepfarrern erwartet wird, daß sie eine eigene Familie gründen.

Die russische Orthodoxie blickt auf eine jahrhundertelange Tradition zurück, an deren Anfang die Christianisierung Rußlands durch Großfürst Wladimir von Kiew im Jahre 988 steht. Seit dem Untergang von Byzanz 1453 bildet sie die wichtigste orthodoxe Kirchenorganisation weltweit. Man versteht sich als Bewahrerin der ursprünglichen, ungeteilten christlichen Kirche. Außer der Bibel kommt der eigenen kirchlichen Überlieferung große theologische Bedeutung zu. In diesem Zusammenhang werden neben den universellen christlichen Heiligen auch Nationalheilige wie Fürst Alexander Newski, der Einsiedler-Mönch Seraphim von Sarow oder, seit 2000, die letzte Zarenfamilie verehrt. Eine Bischofskonferenz in der wiederaufgebauten Christus-Erlöser-Kathedrale in Moskau sprach im August 2000 rund tausend Opfer des bolschewistischen Terrorregimes heilig.

Als Oberhaupt der russisch- orthodoxen Kirche amtiert seit 1990 Alexij II., der im Moskauer Danilow-Kloster residierende „Patriarch von Moskau und ganz Rußland“. Er gilt zwar nicht als unfehlbar, jedoch steht er der Heiligen Synode vor, die alle wichtigen Entscheidungen des Kirchenlebens trifft. Die orthodoxen Strukturen sind nach wie vor der Sowjetzeit verhaftet, denn nicht nur das Territorium der Russischen Föderation, sondern darüber hinaus der ganzen früheren Sowjetunion ist in orthodoxe Diözesen unterteilt, die dem Moskauer Patriarchat unterstellt sind. Vor allem in Estland und in der Ukraine gibt es seit Jahren Versuche, sich von dieser Oberherrschaft zu befreien und eigene Landeskirchen aufzubauen. Diese könnten, wenn der Widerstand aus Moskau überwunden ist, schon bald dieselbe gleichberechtigte Stellung gewinnen wie die orthodoxen Patriarchate von Konstantinopel, Jerusalem, Georgien, Rumänien, Bulgarien oder Serbien.

Anhaltenden Streit gibt es auch mit der russischen Auslandskirche, die nach der Oktoberrevolution von Emigranten gegründet wurde, sowie mit dem Vatikan, dem das Moskauer Patriarchat eine gezielte katholische Missionierung Rußlands vorwirft. Ein Papstbesuch in Rußland sei erst möglich, wenn dieser „Proselytismus“ durch den romtreuen unierten Klerus aufhöre, erklärte Alexij II.

Die unierten griechisch-römischen Kirchen verzeichnen seit dem Untergang des Sowjetreiches 1991 einen besonders starken Zulauf, der insbesondere in der Ukraine zu ständigen Konflikten mit der dortigen, auf Moskau ausgerichteten orthodoxen Kirche führt. Die Unierten betrachten den Papst als Oberhaupt, zelebrieren jedoch die Liturgie nach byzantinischem Ritus und folgen dem Brauchtum der Ostkirche. Zu kommunistischer Zeit waren sie besonders brutalen Unterdrückungsmaßnahmen ausgesetzt, an denen das gleichgeschaltete russisch-orthodoxe Patriarchat mitwirkte und sich dabei zahlreiche unierte Pfarreien mit den verschiedensten Besitztümern aneignete.

Eine weitere kommunistische Altlast der russischen Orthodoxie ist die Person des Moskauer Patriarchen selbst. Alexij II. beziehungsweise Alexius II., wie er sich nach kirchenslawischer Diktion nennt, heißt mit bürgerlichem Namen Alexij Michailowitsch Ridiger (von Rüdiger), ist deutschstämmig und wurde 1929 im estnischen Reval (Tallinn) geboren. Seine Vorfahren lebten im baltischen Kurland. Manche taten sich als Generäle in der russischen Armee hervor; Fjodor Wassiljewitsch (Theodor) von Rüdiger bekam 1847 sogar den Grafentitel verliehen. In den letzten Jahrzehnten des Zarenreiches erregten die Rüdigers Aufsehen als Juristen und lebten in St. Petersburg. Zur Orthodoxie ist offenbar erst der Großvater Alexijs übergetreten. Sein Vater wurde noch in fortgeschrittenen Jahren orthodoxer Priester und spielte 1944 eine wichtige Rolle bei der erneuten Angliederung der orthodoxen Kirche Estlands, die in der Zwischenkriegszeit Konstantinopel unterstand, an das Moskauer Patriarchat.

Zum Oberhaupt seiner Kirche wurde Alexij II. am 10. Juni 1990 erhoben. Zuvor hatte er im estnischen Dorpat (Tartu) als Priester gewirkt und war zum Metropoliten von Reval und Estland aufgestiegen. In den späten 1950er Jahren arbeitete Alexij nachweislich unter dem Decknamen „Droshow“ als Spitzel für den KGB. Diese Verstrickung, die ihm zweifellos den Aufstieg in der Kirchenhierarchie ebnete, wird speziell im unabhängigen Estland als unerträglicher Skandal empfunden, während der Moskauer Patriarch im eigenen Land kaum öffentlichen Anfeindungen ausgesetzt ist.

Indrek Jürjo, ein estnischer Historiker, legte unlängst sein Buch „Aruanded Riikliku Julgeoleku Komitee“ (Die Akten des Staatlichen Sicherheitskomitees Estlands) vor, das beweist, daß die 4. Abteilung des KGB Estlands Alexij ab 1958 als angeworbenen Informanten führte. Ein Schriftstück dokumentiert die regelmäßige Weitergabe von Informationen über Personen, die „anti-sowjetische Meinungen“ verkündeten. Der KGB lobte den Priester, der neben der russischen Muttersprache auch Estnisch und Deutsch erlernte, als „gute Quelle“.

Auch für das offizielle Estland sind diese Aktenfunde peinlich, da der amtierende Staatspräsident Arnold Rüütel im Jahre 2003 dem Patriarchen für „seine Verdienste um Estland“ das Marienkreuz erster Klasse verliehen hatte – den höchsten Orden, den die Baltenrepublik für Ausländer vergeben kann. Hier erscheint selbst eine Rücknahme der Auszeichnung denkbar, während eine Rüge Alexijs II. durch Putin und das offizielle Rußland auszuschließen ist.

Orthodoxe Christen feiern am Freitagabend (6. Januar) mit einer feierlichen Mitternachtsmesse in der Moskauer St. Nikolai-Kirche das Weihnachtsfest. Foto: epd


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