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21.01.05 / Verbotene Frucht / Ein Streich mit ungewollten Folgen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 21. Januar 2006

Verbotene Frucht
Ein Streich mit ungewollten Folgen
von Albert Loesnau

Herr Harmsen, unser Klassenlehrer, war ein Mann mit vielseitigen Fähigkeiten und nie versiegendem Humor. Er liebte die schönen Künste, konnte den „Faust“ und „Die Räuber“ fast auswendig hersagen und spielte bei allen feierlichen Anlässen das große Harmonium in der Aula der Schule – aber er machte uns auch am Reck die Riesenwelle vor.

Wir alle bewunderten ihn. Dennoch artete unsere Hochachtung niemals in unterwürfige Verehrung aus. Im Gegenteil. Wir setzten geradezu unseren Ehrgeiz darein, Herrn Harmsen durch einen gelungenen Streich zu imponieren. Meistens zogen wir dabei den kürzeren – doch das spornte uns nur immer wieder zu neuen Taten an.

Hatte Herr Harmsen jemand bei einem mehr oder weniger geistreichen Schabernack ertappt, dann hielt er ihm vor der Klasse eine gehörige Standpauke, die oft mit einem Dichterwort endete, jedoch stets in der Erkenntnis gipfelte, daß es keinesfalls verboten war, einem anderen einen harmlosen Streich zu spielen – man durfte sich nur nicht erwischen lassen! Dann verdonnerte er den Missetäter zu einer literarischen Strafarbeit, die darin bestand, einen Teil der Chöre aus Schillers Drama „Die Braut von Messina“ auswendig zu lernen.

Neben den zahlreichen Talenten und seinem oft verblüffenden Witz besaß Herr Harmsen eine besondere Vorliebe für Obst. Vor allem Äpfel hatten es ihm angetan. So legte er jeden Morgen zu seinem Frühstücksbrot auch einen Apfel in die Schublade des Katheders. Er erhielt von uns den Namen „Pausenapfel“, weil Herr Harmsen ihn in der großen Pause zu verzehren pflegte. Um diese Äpfel bildeten sich mit der Zeit wahre Legenden, denn die Reihe der rotwangigen Prachtexemplare riß nicht ab. Sogar unserem Musterschüler lief das Wasser im Mund zusammen, wenn der Klassenlehrer wieder einmal einen Apfel hervorholte, der augenscheinlich noch saftiger, noch rotbäckiger und womöglich noch größer war als der vom Tag vorher.

Die einen behaupteten, Herr Harmsen habe einen eigenen Obstgarten, andere wollten wissen, daß er die geheimnisvollen Äpfel noch grün kaufte, um sie nach einem besonderen Verfahren ausreifen zu lassen. Kurz gesagt, uns gingen die Äpfel nicht aus dem Kopf. Es gab niemand in der Klasse, der nicht insgeheim den Wunsch hatte, einmal in einen solchen Pausenapfel hineinzubeißen. Doch keiner traute sich, das zu unternehmen.

Ich hatte lange mit mir gekämpft. Eigentlich konnte gar nichts schiefgehen. Wenn ich mich nicht verriet, würde nie herauskommen, wer den Apfel aus der Schublade des Katheders genommen hatte. Ich wartete nur auf eine Gelegenheit. Sie kam schneller, als ich ahnte. Herr Harmsen wurde am Vormittag zum Direktor gerufen. Die Klassen begaben sich auf den Schulhof. Ich ging mit den anderen hinaus, sonderte mich unauffällig von ihnen ab und kehrte unbemerkt ins Klassenzimmer zurück. Hastig trat ich ans Katheder und öffnete die Schublade. Da lag der Apfel. Rotwangig und verführerisch. Ich zögerte. Dann griff ich zu, verbarg den Pausenapfel in der Hosentasche und schlich ins Kartenzimmer hinüber. Das aufgerollte in Öl gemalte Bild des Hamburger Hafens schützte mich vor unliebsamer Überraschung. Ich nahm den Apfel aus der Hosentasche, sah ihn noch einmal an und biß krachend hinein.

Eigentlich war es eine kleine Enttäuschung – denn die von allen so begehrte Frucht schmeckte genaugenommen wie jede andere derselben Art. Doch die drohende Gefahr der Entdeckung und die außergewöhnliche Situation ließen mir den Apfel als nie gekannte Köstlichkeit erscheinen.

Während der nächsten Unterrichtsstunde geschah nichts. Dann läutete die Glocke zur großen Pause. Die Zeit auf dem Schulhof dehnte sich endlos für mich aus. Es fiel mir schwer, mein Geheimnis für mich zu behalten. Die Spannung wuchs, als wir wieder in die Klasse zurückgekehrt waren. Ich unterhielt mich mit meinem Banknachbarn, blickte dabei je-doch unverwandt zur Tür.

Endlich kam Herr Harmsen herein, legte schwungvoll die Bücher für den Biologieunterricht aufs Katheder und setzte sich. Ich beobachtete ihn genau. Er schien bester Laune zu sein und begann die Stunde mit einer scherzhaften Bemerkung. Ich stutzte. Hatte Herr Harmsen das Verschwinden des Apfels noch gar nicht bemerkt? Oder tat er nur so, um denjenigen zu verunsichern, der ihm den Streich gespielt hatte? Ich saß wie auf glühenden Kohlen. Allmählich jedoch beruhigte ich mich. Was sollte schon passieren? Niemand hatte gesehen, daß ich noch einmal ins Klassenzimmer zurückgegangen war. Herr Harmsen, dem sonst nichts verborgen blieb, würde nie erfahren, wer seinen Pausenapfel stibitzt hatte. Durch meine Überlegungen war ich völlig vom Biologieunterricht abgelenkt worden. Ich hörte erst wieder zu, als Herr Harmsen von den häufig falsch angewandten, umweltschädlichen Mitteln zur Parasitenbekämpfung im Obstanbau sprach.

„Eigentlich wollte ich euch an einem deutlichen Beispiel zeigen, welche ungeahnten Auswirkungen dieses Verhalten für die Früchte und den Menschen selbst hervorruft“, erklärte er gerade. „Ich hatte deshalb heute meinen Apfel mit einem dieser hoch konzentrierten Gifte präpariert, um ein Experiment anzustellen. Aber ich konnte ihn leider nicht mehr finden ...“ Herr Harmsen schloß mit einer bedauernden Handbewegung. „Na ja – wahrscheinlich habe ich den Apfel zu Hause vergessen.“

Seine Wort dröhnten wie Paukenschläge in meinen Ohren. Ich wurde kreidebleich und verspürte plötzlich heftige Übelkeit in mir aufsteigen. Vor meinen Augen begann sich alles zu drehen. Das erste, was ich wieder sah, war Herr Harmsen, der vor mir stand. Er strahlte! „Na also – da haben wir unseren Pfiffikus“, sagte er und fügte schnell hinzu: „Keine Sorge, mein Lieber. Die Geschichte mit dem Pflanzengift war nur ein Trick von mir, um herauszufinden, wer meinen Apfel verzehrt hat.“

Lachen und Beifall bestätigten ihm, daß er wieder einmal schlauer als einer von uns gewesen war. „Du weißt ja, daß ich gegen einen besonders gut ausgedachten Streich nichts einzuwenden habe“, meinte er und zwinkerte mir bedeutungsvoll zu. „Nur ... darf man sich dabei nicht erwischen lassen“, vollendete ich kleinlaut. „So ist es, mein Freund“, nickte Herr Harmsen. Und dann sprach er die für diesen Fall bemessene Strafe aus.

Ich kann heute immer noch sämtliche Chöre der „Braut von Messina“ auswendig hersagen ...

Ein Apfel, präpariert mit konzentriertem Gift


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