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28.01.06 / Der große Etikettenschwindel / Familienpolitik schwankt zwischen Lüge, Ablenkung und Wirtschaftshörigkeit

© Preußische Allgemeine Zeitung / 28. Januar 2006

Der große Etikettenschwindel
Familienpolitik schwankt zwischen Lüge, Ablenkung und Wirtschaftshörigkeit
von Jürgen Liminski

Nach ersten Zahlen des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden sind 2005 sogar noch weniger Kinder in Deutschland geboren worden als in den Jahren zuvor. So ist die Zahl der Lebendgeborenen von 706000 im Jahr 2004 auf voraussichtlich zwischen 680000 bis 690000 zurückgegangen. Zwar versuchen die verschiedenen Parteien sich in der Familienpolitik zu profilieren, doch ihre Programme sorgen nur für Verwirrung und motivieren junge Paare schon gar nicht zum Eltern werden.

Lüge ist nach der klassischen Definition von Augustinus „eine Aussage mit dem Willen, Falsches auszusagen“. Ist die große Koalition in der Familienpolitik verlogen? Diese Frage drängt sich auf, wenn man die nahezu hysterische Debatte um die Betreuung beobachtet. Nehmen wir mal zugunsten der Familienpolitiker an, sie lögen nicht, sondern säßen einfach nur einigen Mißverständnissen auf. Dann könnte man schon auf den ersten Blick wenigstens drei nennen.

Erstens: Sie reden von einer Politik für Frauen und Familie. De facto aber reden sie der Wirtschaft das Wort. Es war eine Forderung des BDA, die Elternzeit zu verkürzen. Das geplante Elterngeld tut dies durch die Hintertür, indem die Erziehungszeit von drei auf ein Jahr verkürzt werden soll. Die Funktionäre der Wirtschaftsverbände und nicht wenige Manager sehen in den Frauen eine stille Reserve. Aus ihr wollen sie schöpfen und den bedrohlich wachsenden Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften beheben. Und das zu einem guten Preis. Frauen kosten weniger als Männer, sind aber ebenso leistungsfähig. Also sollen junge Frauen nur für kurze Zeit ausfallen, wenn sie denn schon Kinder bekommen wollen. All diese Bedürfnisse befriedigt das Elterngeld. Auch die Steuerabsetzbarkeit weist in diese Richtung. Sie gilt für erwerbstätige Frauen und Männer und hilft naturgemäß den Geringverdienenden und hier vor allem den Alleinerziehenden wenig. Es geht der Wirtschaft und der Politik in ihrem Schlepptau auch nicht um die einfachen Leute, sondern um die gut ausgebildeten Akademikerinnen. Sie sollen außer Haus arbeiten und dennoch Kinder haben und diese Kinder sollen so früh wie möglich fremdbetreut werden.

Hier beginnt der zweite Irrtum. Betreuung ist nicht Erziehung. Die Politik, insbesondere die Familienministerin, tut so, als sei die Fremdbetreuung genausogut oder vielleicht sogar besser als die Erziehung durch die Mutter. Ihr Lebenskonzept heißt: Glückliche Kinder gäbe es nur mit zufriedenen Müttern, und Mütter wären nur zufrieden, wenn sie einem Erwerbsberuf nachgingen. Die Erwerbsarbeit wird zum Maßstab und die Vereinbarkeit zum Dogma. Zwar redet sie oft von der Wahlfreiheit. Aber die existiert de facto nicht, wenn eine junge Familie die Wahl hat zwischen Arbeit oder Armut. Für Betreuung aber gilt: Satt, sauber, beschäftigt. Erziehung dagegen ist „Beschenkung mit Menschlichkeit“ (Johannes Paul II.), also Beschenkung mit Zeit und Liebe. Davon redet die Politik nicht. Müßte sie aber, denn diese Beschenkung begünstigt die Hirnbildung, schafft eine dauerhafte Beziehung, bildet das Humanvermögen, jene soziale Kompetenz und emotionale Intelligenz, die zur Bewältigung des Alltags nötig sind und über deren Fehlen die Wirtschaft immer lautere Klagelieder anstimmt.

Diese Zusammenhänge sind nicht auf den ersten Blick produktiv. Sie behindern außerdem die angebliche Selbstverwirklichung der Frauen. Und hier ist der dritte Irrtum. Die Selbstverwirklichungsprogramme für Frauen werden als Familienpolitik verkauft. Das ist klassischer Etikettenschwindel. Mehr noch. Sie entpuppen die momentane Politik als hoffnungslos reaktionär. Denn schon seit einigen Jahren haben selbst Feministinnen (außer Alice Schwarzer) entdeckt, daß Mutterschaft zur Frau gehört. Für Germaine Greer ist erst die Mutter „die ganze Frau“ und eine jüngere Feministin, die amerikanische Psychologin Daphne de Marneffe verweist in ihrem neuen Buch auf das tiefreichende Verlangen von Frauen, Mutter zu sein. Dieses Verlangen präge das Leben und die Persönlichkeitsentwick-lung der Frauen genauso tief wie ihre Sexualität. Hier ist Flexibilität der Wirtschaft und Politik verlangt, nicht noch weitere Unterwerfung der Frau, indem sie ihre Kinder in die Staatsbetreuung abgibt.

Zwischen der Lüge, dem Etikettenschwindel und der reaktionären Haltung ist noch Platz für eine weitere Interpretation: Manipulation durch die Medien. „Habt Mut zu neuen Prioritäten!“ ruft in diesem Sinn die Familienministerin den Ländern und Kommunen frohgemut zu. Sie sollen die Kita-Gebühren abschaffen. „Und wer soll es bezahlen?“ schallt es vom Städte- und Gemeindebund weniger fröhlich zurück. Damit könnte man eigentlich den neuen Zwischenruf der Ministerin ad acta legen. Aber der mediale Aktivismus, der sich hier erneut kundtut und meist folgenlos bleibt, findet in einem Umfeld statt, das in dreierlei Hinsicht bemerkenswert ist.

Erstens: Auch die SPD hat die Familie neu entdeckt und will sie in den nächsten Jahren – also bis spätestens zur Bundestagswahl 2009, aber vielleicht auch schon zu den Landtagswahlen in diesem Jahr – zu einem der zwei, drei großen Schwerpunkte ihrer Politik machen. Da ist verständlich, daß die CDU nervös wird, zumal sie auf diesem Feld alles aufgegeben und nun nichts mehr zu bieten hat und deshalb auch tapfer nur noch die Kontinuität der Politik der früheren SPD-Familienministerin Renate Schmidt verkündet (was auf Anfrage im Ministerium auch bestätigt wird).

Zweitens: Es spricht sich herum und die Familien spüren es am eigenen Leib und Haus, daß die hehren Versprechen und Verheißungen – etwa nach der Klausurtagung in Genshagen – mediale Betrugsmanöver sind. Konkret: Zuerst nimmt man den Familien Milliarden weg (Eigenheimzulage, Pendlerpauschale, zwei Jahre weniger Kindergeld, demnächst Erhöhung der Mehrwertsteuer), und jetzt stellt man ein kompliziertes Elterngeld und Steuerersparnisse bei Betreuungsausgaben in Aussicht, die die Verluste keineswegs wettmachen und nach Ansicht der meisten Experten vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand haben werden. Außerdem gibt es auf Länderebene schon Betreuungs-Alternativen, etwa in Thüringen (siehe Seite 5), die nicht nur die Doppelverdiener begünstigen. Überhaupt lenkt der aktuelle Streit um die Familienpolitik nur davon ab, daß die Politik insgesamt den Forderungen des Bundesverfassungsgerichts nicht entsprochen hat und auch nicht willens ist, ihnen zu entsprechen. Wir leben familienpolitisch im „permanenten Verfassungsbruch“ (Paul Kirchhof), und insofern ist der Streit auch nur ein Ablenkungsmanöver oder schlicht Blendung.

Das läßt sich sogar beziffern. Entgegen den wiederholten Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts wird der Einkommensabstand zwischen Kinderlosen und Familien nicht geringer. Im Gegenteil, die Belastung von Familien gegenüber Kinderlosen sei durch „Mehrwertsteuererhöhung, Ökosteuer und Steuerreform rasant gestiegen“, sagt in einem Gespräch mit dieser Zeitung der Sozialrichter in Darmstadt und bundesweit bekannte Familienexperte Jürgen Borchert. Er macht folgende Rechnung auf: „Wenn man sich die Transferverhältnisse anschaut, wie das übrigens im Trümmerfrauenurteil vom Bundesverfassungsgericht 1992 mal gemacht wurde, stellt man fest, daß der Abstand enorm wächst. Nehmen wir die Krankenkassen und das übliche Argument, Kinder seien kostenlos mitversichert. Nun, ein kinderloser Ruheständler verursacht vom Eintritt in den Ruhenstand bis zum Tode an Gesundheitskosten gegenüber Kindern das Zehnfache an Kosten“. Bei der Steuer müsse man zunächst differenzieren zwischen direkten Steuern, also Einkommens- und Lohnsteuern, und den indirekten, also den Verbrauchssteuern. „Da Familien von einem Einkommen etwa gleicher Größenordnung wie ein Kinderloser drei, vier oder mehr Personen versorgen müssen, also einen viel höheren Verbrauch als Kinderlose haben, hat das Bundesverfassungsgericht verlangt, daß der Gesetzgeber bei jedem Gesetz, das er macht, darauf achten muß, daß der Einkommensabstand zwischen Familien und Kinderlosen nicht größer wird. Aber das Gegenteil ist passiert, die Einkommensabstände werden nicht kleiner zwischen Familien und Nichtfamilien, sondern sie wachsen rasant.“ Das lasse sich nachweisen an der „Mehrwertsteuererhöhung 1998, an der Ökosteuer, der Steuerreform 2000/2005 und wird nun fortgesetzt mit der geplanten Mehrwertsteuererhöhung 2007. All diese Maßnahmen führen dazu, daß die Belastung der Familien gegenüber den Kinderlosen um etwa 400 bis 500 Euro gewachsen ist.“

Drittens: Das demographische Defizit, das auch durch die jahrzehntelange Vernachlässigung der Familie durch die Politik entstanden ist, gefährdet mittlerweile nicht nur die Sozialsysteme, sondern auch den allgemeinen Wohlstand und das Wachstum. Der stagnierende Binnenkonsum hat hier eine Hauptursache. Die emotionale Verarmung Deutschlands – Stichworte: Pflege, Einsamkeit, Rück-gang ehrenamtlicher Tätigkeiten – treibt uns in eine kalte, lieblose Gesellschaft des Kalküls. Hier wirken die Familien entgegen. Also sind die Politiker sogar in steigendem Maß auf die Familien und auf die Selbstlosigkeit der Mütter angewiesen.

Kurzum: Wer die Geburtenzahlen erhöhen will in Deutschland, der sollte nicht nur auf kurzfristig denkende Funktionäre und Ideologen hören, sondern seriöse Umfragen und Studien zur Kenntnis nehmen. Zum Beispiel die Umfrage von Allensbach, wonach nicht mangelnde Betreuungsoptionen der Grund für den versagten Kinderwunsch sind (das sagen nur 14 Prozent), sondern die Angst vor der Verarmung.

Finanzen sind, so hat auch schon vor zehn Jahren der Nestor der Familienpolitik, Professor Lampert, festgestellt, für 90 Prozent der Paare, die eigentlich Kinder wollen, der Grund für ihr Nein zu Kindern. Und der Autor einer neuen Ifo-Studie stellt schlicht fest: Entscheidend für angehende Eltern sei die Frage, wie teuer sie ein Kind zu stehen komme.

Dem Ifo zufolge könnte die Geburtenrate um 0,2 Prozentpunkte gesteigert werden auf 1,55 Kindern pro Frau, wenn der Staat ein Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung, also 22 Milliarden Euro, ausgäbe für Familienpolitik. Geplant sind aber nur 1,5 Milliarden.

Und wenn man skandinavische Verhältnisse als Vorbild nimmt, wie das die Politik jetzt wieder öfters tut, dann müßte man doppelt so viel aufbringen wie das ifo vorschlägt, also rund 44 Milliarden Euro. Das hat immerhin die Vorgängerin der Familienministerin, Renate Schmidt, einmal ausgerechnet.

Die Bundesfamilienpolitik hat ein wachsendes Glaubwürdigkeitsproblem. Sie müßte für die Familienmanagerinnen, vulgo die Mütter zuhause, Prioritäten setzen oder wenigstens Leistungsgerechtigkeit fordern. Aber dazu gehört im wirtschaftsorientierten Berliner Biotop wirklicher Mut.


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