© Preußische Allgemeine Zeitung / 04. Februar 2006

Kein Ort, der die Phantasie beflügelt
Der Schweizer Adolf Muschg fragt, was Europa verbindet und wo seine Grenzen liegen

Mit ziem-lichen Unwillen haben die meisten Deutschen auf Angela Merkels Bereitschaft, weiterhin den Zahlmeister der Europäischen Union zu spielen, reagiert.

Warum müssen schon wieder die Deutschen ran und was soll überhaupt dieser ganze Hokuspokus um die bürokratisch arbeitende EU und was haben wir Deutsche damit zu tun?

„Was ist europäisch?“ lautet dann auch der Titel des Buches von Adolf Muschg. Der Schweizer, der bis Dezember 2005 Präsident der „Akademie der Künste“ in der deutschen Hauptstadt war, aber wegen unüberbrückbarer Differenzen mit dem Berliner Senat sein Amt aufgegeben hat, geht dieser Frage nach. Und als einer der ersten Aspekte erwähnt er, daß die Begeisterung der Bevölkerung für die EU in fast allen Ländern gleichermaßen zu wünschen übrig lasse. Dabei verbinde den Kontinent eine gemeinsame Geschichte, die Höhen und Tiefen in sich berge, und gerade aus den Tiefen heraus sei die EU entstanden, um vor allem Kriege zwischen den Bewohnern dieses Erdteils gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Auch bedauert der Schweizer, daß sein Land nicht der EU angehört, denn letztendlich bewundert er die Idee, die hinter der europäischen Vereinigung steckt. Doch: „,Brüssel‘ ist kein Ort, der die Phantasie beflügelt. Es scheint sich hauptsächlich als Zentralbehörde des Wettbewerbs um jeden Preis zu verstehen, als Vatikan regulierter Deregulation. Was durch verschlossene Türen dringt, klingt eher technokratisch als politisch und – im Sinne des klassischen Athen – ziemlich banausenhaft. Das könnte für die Zukunft Europas auch ein bißchen wenig sein – und andererseits wiederum schon zu viel.“

Um die EU mit Leben zu füllen, setzt der Autor bewußt auf die verschiedenen, wenn auch gezügelten Nationalitäten, die kulturelle Kompetenz, da „mit Wohlstandsangeboten“ vor allem die ehemaligen Ostblockstaaten nicht allein bei der Stange zu halten seien.

„Ein Boot ohne Tiefgang hält keinen Kurs … Europa braucht keinen Mythos seiner selbst, aber eine gute Erzählung seiner Geschichte – wie diejenige der phönizischen Prinzessin seines Namens.“

Dabei ist für den Träger des Georg-Büchner-Preises Europa nicht überall. Wo fängt Europa an, wo hört es auf? Daß sich hierüber mit Hinweis auf die Geschichte trefflich streiten läßt, räumt der Autor zwar ein, doch für ihn zählen die gemeinsamen Werte mehr als die Tatsache, daß ein Teil der Türkei auf europäischem Boden liegt oder Jerusalem die Stätte des Christentums ist. „Nein, die Inkorporation einer muslimisch geprägten Gesellschaft ist es nicht, die ich Europa ersparen möchte – dieses Problem wird sie nicht nur mit Bosnien und Albanien, sondern mit jeder europäischen Großstadt auch im eigenen Haus haben.“

Adolf Muschgs Gedanken über Europa sind sehr erhellend, wenn auch nicht immer leicht zu verstehen, da der Intellektuelle zahlreiche Querverweise auf die Antike, verschiedene nationale Redensarten und Parallelen bringt. Da das Buch schon im Jahr 2005 entstanden ist, sind auch noch nicht die neuesten Entwicklungen verarbeitet und analysiert. Wäre dies der Fall, so wäre der ehemalige Professor für deutsche Sprache und Literatur in Zürich bestimmt zu noch härteren Urteilen gelangt.

Doch was ist nun eigentlich europäisch? Die Antwort ist keineswegs einfach, doch Adolf Muschg nähert sich ihr. Trotzdem ist das Ergebnis nicht einfach in Worte zu fassen, es ist vielmehr ein Gefühl von Europa, was zurückbleibt. Wie man für dieses jedoch die Bewohner dieses Erdteils begeistern soll, bleibt offen. Rebecca Bellano

Adolf Muschg: „Was ist europäisch?“, C. H. Beck, München 2005, geb., 126 Seiten, 14,90 Euro