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11.02.06 / Dickkoppsche Nadeln / Einkaufen und die Vorfreude darauf - besondere Ereignisse im Leben auf dem Land

© Preußische Allgemeine Zeitung / 11. Februar 2006

Dickkoppsche Nadeln
Einkaufen und die Vorfreude darauf - besondere Ereignisse im Leben auf dem Land
von Frida Jung

Wir lebten, wie es damals allgemein Sitte war, sehr einfach. Man trank nicht zu jeder Mahlzeit die Milch so schlankweg, wie sie aus der Kuh kommt. Das gab's höchstens zum Mittagessen. Zum Abendbrot wurde der Schmand davon sorgfältig abgeschöpft. Und wenn dieser sich bald darauf im Butterfaß unter den Händen der Schwester in Butter verwandelte, so bekamen wir davon auch nicht gerade fingerdick auf unser Brot gestrichen. Denn hiervon hatte wiederum ein Teil die Verpflichtung, die Wandlung in blanke Silbergroschen durchzumachen. Aus der Glumse stellte Mutter kleine Käse mit Kümmel her, die sehr oft unser Kleinmittag ausmachten, hin und wieder aber auch nach Nemmersdorf zum Verkauf geschickt wurden - sechs Stück für einen Dittchen. Auch Sirup wurde bei uns gekocht, aus Gelbmöhren und Rüben; er schmeckte herrlich und sparte viel Zucker.

Fleisch zu jedem Mittagessen zu erwarten, fiel niemandem ein. Und wäre jemand auf die Idee gekommen - nun, da hätte er ja an dieser allein schon etwas Hübsches gehabt und konnte nun ruhig seine Kartoffelflinsen oder Mehlkeulchen oder dicken Reis dazu essen. Die zwei fetten Borstentierchen und die sechs oder acht Gänse, die in jedem Herbst geschlachtet wurden, lieferten, von Mutter sorgfältig eingeteilt, ein schmackhaftes Stückchen Rauch- und Pökelfleisch für jeden Sonntag, Dienstag und Freitag des Jahres, und nur in besonderen Fällen, wurden einmal ein paar Pfund frischen Fleisches aus Nemmersdorf geholt. Im Dorf selbst gab es weder einen Kaufladen noch einen Krug.

Heutzutage gibt man unter den gleichen Vermögensverhältnissen wohl das Doppelte aus. Aber ich wüßte nicht, daß der Gesundheitszustand sich dadurch gehoben hat. Jedenfalls waren wir damals frisch und blühend. Und was hatten wir für Freuden gerade dadurch, daß uns nicht alle Leckereien nur so auf dem Präsentierteller entgegengetragen wurden. Manchmal passierte bei uns etwas Großes. Wir saßen in der Stube und dachten an gar nichts. Auf einmal hieß es: "Der Sperling ist da, der Sperling ist da!" Das war aber nicht ein Sperling mit Federn. Das heißt, ja - Federn hatte er, aber in einer Tonne. Doch fliegen konnte er nicht, denn er war kein Sperling, er hieß bloß so. Und jetzt war er wieder da - jetzt war er wieder da!

Er saß in seinem großen Planwagen auf einem Bündel Stroh. Hinter ihm lag allerlei Greuliches - Lumpen, Felle, Knochen - von dem man nicht begreifen konnte, warum der alte Sperling so schöne Sachen dafür gab. Vor ihm aber standen Wannen mit Heringen und grüner Seife, nun, daraus machte einer sich noch nicht so viel. Aber der große Sack mit Semmeln! Und der Kasten, der Kasten! Wenn man von dem Kasten nur ein Eckchen erblickte, schlug einem gleich das Herz bis in den Hals, denn man wußte noch vom vorigen Mal, was darin war. Auf der einen Seite Lakritzen, Gerstenzucker, Johannisbrot und Süßholz, auf der anderen Seite "dickkoppsche" Stecknadeln - nichts als dickkoppsche Stecknadeln! Die waren das Wunderbarste, was es auf der Welt gab, und hießen darum so, weil sie dicke Köpfe hatten, blaue, gelbe, schwarze; manche hatten sogar ein Vögelchen als Kopf. Die Prinzessinnen, Feen und Elfen in unseren Märchen hatten sicher auch alle ihre Schleier und Gewänder mit solchen dickkoppschen Stecknadeln zusammengesteckt.

Wenn der Wagen vor der Tür hielt, schlug ich gleich einen Purzelbaum, was mir eigentlich verboten war. Und dann hinauf auf die Lucht.

"Mutterchen, dies?"

"Nein, das ist noch zu schade!"

"Oje! Na denn aber dies - und das - und das!"

Meine Schwester Martha hatte immer das größte Bündel, aber Mutterchen nahm ihr meistens noch etwas weg. "Wo denkst du hin? Das ist noch 'n guter Rock!" Schließlich aber hatte doch jeder ein ganz nettes Päckchen unter dem Arm. Wenn man jetzt nur schnell herangekommen wäre! Doch nun stand schon das ganze Dorf um den Wagen, ich konnte mich auf den Zehenspitzen rekken, wie ich wollte...

Endlich kam der Vater, nahm mich auf den Arm und half mir beim Handel. "Zwei Stangen Süßholz, vier Lakritzen und eine Dickkoppsche", forderte er und lachte so vergnügt, daß ich seine weißen Zähne blitzen sah.

"Gott der Gerechte, nu fängt auch noch der Herr Lehrer an, ausverschämt zu werden. Wer' ich geben aine Stange Sißholz, aine Lakritzen und kaine Dickkoppsche!" Aber zuletzt gab er doch das, was Vater gefordert, denn der hatte auf mein Bündelchen noch einen halben Dittchen gelegt.

Wenn Mutter alle Vierteljahr etwa auf Einkauf nach Gumbinnen fuhr, das war noch viel schöner. Denn jenes war gewissermaßen ein Eintagsglück, aber dies hatte eine regelrechte Vorfreude, ein Morgenrot möchte man sagen - solch eine Fahrt plant man ja nicht von heute zu morgen, sie will bedacht und vorbereitet sein! Und während dieser Vorbereitungen...

Der große Tag selbst geht dann in seliger Unruhe dahin. "Friedel, wat lachst?" fragen die Kinder in der Schule, als ich stillvergnügt an meinem Federhalter kaue.

"Na, sull eck nicht lache - ons Mutterke es enne Stadt gefoahre!" - "Ach so!"

Die Getreuen wissen Bescheid. Morgen in der Stunde wird es heimlich von Hand zu Hand wandern, und diese Hände werden von der Süßigkeit des Geschenks zusammenkleben zu unverbrüchlicher Freundschaft.

Im weiteren Verlauf spielt sich die Sache dann aber verschieden ab, je nach der Jahreszeit. Im Sommer läuft man dem Wagen bis zum Steinerberg entgegen, um noch die paar hundert Schritt mit heimzufahren, im Winter sitzt man am befrorenen Fenster, haucht sich ein Guckloch in die Eisblumen und wartet - wartet.

Endlich ein Schrei: "Sie kommt - sie kommt!" Wir stehen bereits alle im Flur. "Na, bist du da, Mutterchen?" Sie versichert freundlich, ja, sie sei nun da! Und weil sie fürchtet, ich könnte fragen, ob sie uns auch etwas mitgebracht, was sie mir als unbescheiden verboten, sagt sie rasch: "Aber heut hab ich euch bloß was Schönes mitgebracht!"

Wir sind schon draußen. Paket um Paket wird vom Wagen oder Schlitten hereingeschleppt. - Und endlich ist es soweit. Aus dem gelben Strohpapier löst sich's langsam: Pamel - "Schusterjungens!" So lange wir zu denken vermögen, bringt Mutterchen uns schon aus der Stadt Pamel, Gebäck aus Weizenmehl, mit. Aber wir sind gerührt: Sie hätt's ja diesmal auch unterlassen können! Wir bedanken uns jeder nach seiner Art, Hanna etwas zerstreut, Martha sehr fix und gewandt, ich mit Inbrunst. Aber ich kann mir nicht helfen, ich erwarte vom Schicksal noch mehr. Dort das Pack aus dem Kolonialgeschäft! Meinen Schusterjungen in der Hand, durchbohre ich es mit meinem Blick.

"Mutterchen, wird das heute noch ausgepackt?"

"Na, was meinst du, Friedel?"

Ich bin der glühenden Meinung, daß es nötig ist.

"Ja, denn mußt du mir aber dabei helfen, ich bin vom Rumlaufen in der Stadt ganz kaputt!"

O liebe, liebe Mutter! Wenn du dein Dirnlein in dem großen Paket wählen ließest, glaub mir, seine Wonne war größer, als wenn heutzutage ein verwöhntes Kind einen Zeppelin geschenkt bekommt. Und billiger! Sie kostete nichts als Verständnis, und davon hattest du so viel, daß du verschwenden konntest! Oder war es etwa Zufall, daß die "bunte Tüte", die du jedesmal für zehn Pfennig eingekauft, sich stets ganz tief unten in dem Säckchen befand, so daß die Spannung Zeit hatte zu wachsen - zu wachsen? Ich glaub's nicht. Aber in diesem und in jenem Leben glaube ich an deine Liebe.

"Wenn der Wagen kam, schlug ich einen Purzelbaum"

"Heut hab ich euch bloß was Schönes mitgebracht"

Hausschlachtung: Fleisch gab es nicht jeden Tag Foto: bpk


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