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18.02.06 / Wenn der Staat bestimmt, was war / Frankreichs Historiker wehren sich gegen Gesetze, die die geschichtliche Wahrheit festlegen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 18. Februar 2006

Wenn der Staat bestimmt, was war
Frankreichs Historiker wehren sich gegen Gesetze, die die geschichtliche Wahrheit festlegen
von Hans-Joachim von Leesen

In Frankreich hat sich eine Vereinigung von Historikern gebildet, die sich den Titel "Freiheit für die Geschichte!" gegeben hat. Sie setzt sich vor allen Dingen aus einer ständig wachsenden Gruppe von Wissenschaftlern zusammen, die seit über einem Jahr gegen ein französisches Gesetz Sturm läuft, das festgelegt hat, in französischen Schulen solle im Geschichtsunterricht die "positive Rolle der französischen Präsenz in Übersee und insbesondere in Nordafrika" den Schülern vermittelt werden.

Die damit offenbar angestrebte Verherrlichung oder doch zumindest die Rechtfertigung des französischen Kolonialregimes in Afrika, vor allem im arabischen Nordafrika, paßt den Historikern nicht. Dabei geht es allerdings nur zum Teil um Interessenpolitik; alle stimmen darin überein, daß es grundsätzlich nicht Sache der Politiker sei, "die historische Wahrheit zu definieren". Der Geschichtswissenschaftler Gilbert Meynier betonte, er hätte das Gesetz auch dann abgelehnt, wenn es verlangt hätte, den französischen Kolonialismus als abscheulich darzustellen. Es ist nach Auffassung vieler französischer Historiker allein Aufgabe der Wissenschaftler festzustellen, was eigentlich geschehen ist - eine Sicht, die sich deckt mit der Auffassung des bedeutendsten deutschen Historikers des 19. Jahrhunderts, Leopold von Ranke, auch wenn einige heutige allzu- sehr dem Zeitgeist ergebene deutsche Geschichtler glauben, sich darüber hinwegsetzen zu können.

Die Kritik am Verlangen des französischen Parlaments, in den Schulen die französische Kolonialherrschaft positiv darzustellen, bekam Brisanz, als überall in Frankreich, vor allem aber in den Randgebieten großer Städte, in denen sich Zuwanderer aus Afrika ballen, Unruhen ausbrachen. Auf der einen Seite die Forderung des Gesetzgebers, die französische Kolonialpolitik positiv zu bewerten, auf der anderen die jungen Angehörigen der kolonisierten Völker, die sich benachteiligt fühlten: Das ergab eine explosive Mischung, die sich in bürgerkriegsähnlichen Eruptionen entlud.

Jetzt erhielt auch das Bestreben der französischen Historiker Auftrieb, Schluß zu machen mit einer amtlich verordneten Sicht der Geschichte, die offensichtlich mit den tatsächlichen Ereignissen der Vergangenheit weniger zu tun hat als mit heutiger politischer Korrektheit. Und tatsächlich nahm der Präsident im Januar das Gesetz zurück; die Verfassung gibt ihm dazu die Möglichkeit.

Inzwischen aber hatte sich der Forderungskatalog der Historiker erweitert. Es gibt nämlich nicht nur dieses eine Gesetz in Frankreich, das die Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit der Historiker festlegt. Das Parlament hatte im Laufe der Jahre mehrere ähnliche Gesetze verabschiedet, so als die Politik am 13. Juli 1990 in die Forschung über den Holocaust eingriff, indem sie die Leugnung oder Infragestellung des Holocausts unter Strafe stellte. Am 29. Januar 2001 wurde gesetzlich festgelegt, daß niemand den Völkermord an den Armeniern durch die Türken leugnen dürfe. Am 21. Mai desselben Jahres verlangte ein Gesetz, die Sklaverei und den Sklavenhandel allein als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" zu deuten.

Den Historikern geht es weniger um den Inhalt der Gesetze, es gibt durchaus viele, die in der Bewertung der historischen Ereignisse derselben Meinung waren wie der Gesetzgeber. Aber sie vertreten den Standpunkt, Geschichte sei weder eine Religion mit unumstößlichen Dogmen noch eine Moral, die auszeichne oder verdamme, oder ein juristisches Objekt. "In einem freien Staat ist es weder Sache der Parlamente noch der Justiz, die historische Wahrheit zu definieren. Die Politik des Staates ist, selbst wenn sie von bestem Willen beseelt ist, nicht die Politik der Geschichte", so der Appell von 19 renommierten französischen Historikern.

Die Unart, daß der Staat in die Geschichtswissenschaft eingreift, ist neuen Datums. Wegweisend waren die Bolschewisten, als es um die Darstellung und Deutung der kommunistischen Oktober-Revolution in Rußland ging. So wurde eine "Kommission für die Geschichte der Oktober-Revolution und der Kommunistischen Partei" schon im Herbst 1920 gegründet und wenig später der Zuständigkeit des Zentralkomitees der Partei unterstellt. Deren Mitglieder waren nicht Historiker, sondern prominente Parteiaktivisten. Sie bestimmten, wie die Historiker die Oktober-Revolution darzustellen und zu deuten hatten. Es ging eher um politische Sinnstiftung als um wissenschaftliche Aufarbeitung der Ereignisse. Denn "wer die Vergangenheit kontrolliert, der kontrolliert die Zukunft; wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit", wie George Orwell in seinem Buch "1984" sarkastisch formulierte.

Inzwischen hat offenbar das Vorgehen der Bolschewiki Schule gemacht, und das nicht nur in Frankreich. In den letzten Jahren bildete sich ein Begriff, der zur Zeit Leopold von Rankes unbekannt war: die Geschichtspolitik. Politiker nutzten und nutzen auch in Deutschland die Geschichte, um die Vergangenheit in ihrem Sinne zu deuten. Und aus der Geschichtspolitik entsteht die Erinnerungskultur. Geschichtspolitik hat mit der Geschichtswissenschaft nur ansatzweise etwas zu tun, sehr viel aber mit Vergangenheitsbewältigung, einem weiteren Instrument der politischen Erziehung. Die Historiker bezeichnen dies als Mißbrauch ihrer Wissenschaft. Sie verlangen, daß alle derartigen Gesetze außer Kraft gesetzt werden. Nachdem die Forderung nach Abschaffung der staatlich verordneten Lobpreisung der Kolonialpolitik unter dem Druck der 40000 Unterschriften unter einer entsprechenden Petition Erfolg hatte, wurde die Forderung jetzt erweitert auf die Abschaffung ähnlicher Gesetze wie etwa das Verbot, den Holocaust zu leugnen, den Mord an den Armeniern zu hinterfragen oder die Sklaverei anders als verderblich darzustellen. Die Kernaussagen der Historiker lauten: "Die Geschichte ist keine Religion. Der Historiker akzeptiert kein Dogma, respektiert kein Verbot, kennt keine Tabus. Er kann stören. Die Geschichte ist nicht die Moral. Es ist nicht die Rolle des Historikers zu preisen und zu verdammen. Er erklärt. Die Geschichte ist nicht die Sklavin der Aktualität. Die Geschichte ist kein Rechtsgegenstand. In einem freien Staat ist es weder Sache des Parlaments, noch der Justiz, geschichtliche Wahrheit zu definieren."

Die historische Wahrheit ist nicht Sache der Politik

Gerechtfertigt: Kriegsgefangene im algerischen Unabhängigkeitskrieg im Lager Setif Foto: ullstein


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