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11.03.06 / "Glaubst du noch an den Klassenkampf?"

© Preußische Allgemeine Zeitung / 11. März 2006

"Moment mal!"
"Glaubst du noch an den Klassenkampf?"
von Klaus Rainer Röhl

Glaubst du an Gott? Die Frage würden viele evangelische Christen manchmal gern an ihre Pfarrer stellen. Trotz Kirchentag und Kirchenasyl und Brot für die Welt - glaubst du selber an Gott? Die meisten stellen die Frage nur heimlich für sich im stillen Kämmerlein und wagen sie nicht offen an ihren Pfarrer zu richten.

Die Frage aber an Gewerkschaftsführer wie Frank Bsirske: "Glaubst du noch an den Klassenkampf", darf schon offener gestellt werden. Bsirske, zunächst Funktionär der "Sozialistischen Jugend" der SPD, wechselte 1987 zu den Grünen und machte Karriere bei der ÖTV, die auf seine Initiative in der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di aufging (Ver.di aus Verkehr und Dienstleistung). Seit 2001 ist Bsirske deren Vorsitzender und als "Arbeitnehmervertreter" Aufsichtsratsmitglied des mächtigen Energiekonzerns RWE und der Lufthansa. Die Mitgliederzahl von Ver.di ist rückläufig, Lohnkämpfe hatte es seit langem nicht gegeben, denn die Arbeitgeber, Bund, Länder und Gemeinden, leiden eher an finanzieller Auszehrung, als daß man ihnen, wie etwa der Metallindustrie, fette Gewinne hätte vorhalten können, einen dicken Kuchen, von denen die Arbeiter sich nach dem Willen ihrer Gewerkschaft eine tüchtige Scheibe abschneiden sollten. Für die Dienstleistungsberufe hatte es seit vielen Jahren nichts gegeben, was zu verteilen gewesen wäre, außer den finanziellen Klemmen, in denen insbesondere die Länder und Kommunen sitzen. Und so beschlossen die Kommunen, der Bund und die Länder, eine Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit um eineinhalb Stunden. Bsirske, der noch im Sommer 2005 in Berlin zusammen mit der PDS einer massiven Lohnsenkung für die 13000 Beschäftigten der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) zugestimmt hatte, witterte dieses Mal Morgenluft und sah klassenkämpferischen Handlungsbedarf. Sind doch die Arbeitgeber dieses Mal nicht der rot-rote Senat von Berlin, sondern Bund, Länder und Gemeinden, die in der Mehrzahl der CDU/CSU zuzurechnen sind. Der Herr über 4500 Angestellte und 2,4 Millionen Gewerkschaftler hat seine Mannen aufgeboten zum bundesweiten Gefecht. Seit vier Wochen wird gestreikt, mal hier, mal dort. Ein riskantes Unternehmen mit ungewissem Ausgang. Manche fürchten sogar, es könnte sein letztes Gefecht sein. Ein paar Kompromißangebote von Kommunen oder Ländern wie Hamburg sind schon gemacht worden. Hamburg schloß sogar den Arbeitskampf mit einem Kompromiß ab. Da die "Arbeitgeber" wenig Kompromißbereitschaft signalisiert haben, geht es immer noch um 18 Minuten Mehrarbeit pro Tag, aber dafür will Bsirske Deutschland jetzt flächendeckend mit Müllbergen überziehen, koste es, was es wolle. Er kann es. Die Gewerkschaft hat eine Streikkasse, aus der die Streikenden entlohnt werden - wenn sie der Gewerkschaft angehören. Diese Streikkasse ist möglicherweise gut gefüllt, aber bei einem jetzt angekündigten, bundesweiten Streik nach kurzer Zeit leer. Bis dahin muß Bsirske den mißtrauischen Arbeitern und Angestellten an der Basis einen Erfolg nachweisen können. Ihr Mißtrauen ist, arbeiterklassenspezifisch, stets wach. Seine Behauptung, durch die Arbeitszeitverlängerung würden am Ende Arbeitsplätze abgebaut, ist durch nichts bewiesen, sie wird aber, zumindest teilweise, von den Gewerkschaftsmitgliedern geglaubt. Der Teil der Beschäftigten, der nicht Mitglied von Ver.di ist oder bei den Urabstimmungen über den Streik mit Nein stimmte - für ein "Ja" genügte eine Zweidrittelmehrheit -, hat keine Möglichkeit zu arbeiten. Streikposten hindern Arbeitswillige am Betreten der Werkstätten oder Betriebsbahnhöfe. Privatfirmen, die den aufgestauten Müll weggeräumt haben, wird die Zufahrt zu den Mülldeponien gesperrt. Aktiven Streikschutz nennt man das.

Und so ziehen sie täglich in den Kampf. In der rot-weißen Einheitsschürze und der Mütze aus Baumwolle. Damit es ordentlich aussieht. Alle ziehen brav die Kittel über und führen die Trillerpfeifen zum Mund, die in genügender Anzahl bestellt wurden und zusammen mit Transparenten und Ansteckern von Ver.di pünktlich an den Ort der Demonstrationen gebracht werden, wo das Fernsehen schon wartet. Bei Ver.di herrscht Ordnung. Unordentlich sahen nur die Müllhaufen in Hamburg und Stuttgart aus. Das mögen die Deutschen nicht. In Athen sind sie Alltag. Dort stinkt der Müll zum Himmel bis in den sechsten Stock der Hochhäuser. Bei uns waren solche Müllberge lange nicht mehr zu sehen. Noch stinkt es nicht, wegen der anhaltenden Kälte, stört aber jeden normalen Bürger jetzt schon. Die Krankenschwestern und Pfleger, die Kindertanten aus den Kitas und den Baby-Krippen können ihre Alten und Kinder und Kranken nicht zu Bergen auftürmen, aber sie streiken mit, den Hauptdruck üben die Müllmänner aus für Bsirske. Lange können sie nicht durchkommen mit den Müllbergen. Es sieht so aus, als ob die finanziell ziemlich klammen Kommunen und Länder dieses Mal durchhielten. Lange kann die Streikkasse der Gewerkschaft die Streikgelder für den ausfallenden Lohn nicht auszahlen. Wenn es wieder wärmer wird, bis zum 13. März, dem nächsten Tag der Verhandlungen zwischen Ver.di und der Tarifgemeinschaft der Kommunen und Länder, kommen die Ratten heraus aus ihren Löchern - und die könnten die Vogelgrippe haben. Meint die "Bild"-Zeitung, die es gerne ein bißchen krasser sagt. Die Ratten kommen.

Viele Arbeiter waren schon ausgetreten aus der Gewerkschaft, die kriegen jetzt kein Streikgeld. Selber schuld. Aber nach dem Streik könnten noch sehr viel mehr Arbeiter und Angestellte austreten aus Ver.di. Das ist die Angst der festangestellten Funktionäre und Funktionärinnen. Insgesamt 4500 Mitarbeiter, die natürlich auch ganz schön Geld kosten. Ob die auch nur 38,5 Stunden in der Woche arbeiten, ist nicht bekannt.

Die große Mehrheit der Deutschen hatte Vertrauen zu den großen demokratischen Volksparteien und auch zur FDP. Die Mehrheit wollte keine andere Republik als die, die sie jetzt, mit allen Fehlern und Mängeln und Einschränkungen und Schwierigkeiten, hat.

Von der breiten linken Mehrheit, der Volksfront und dem Sozialstaat für alle träumen nur ein paar kommunistische Senioren und ein paar jugendliche Schwärmer bei Attac und bei der "Kommunistischen Plattform" der Frau Wagenknecht. Sie werden weiter überzeugt sein, daß die Bundestagswahl von 2005 ihnen eine Mehrheit gebracht hat. Eine Mehrheit, die eigentlich eine wundervoll sozialistische Volksfront ermöglicht habe, eine Art Schlaraffenland. Mit 1000 Euro Einkommen für alle. Und kostenlosen Kinderkrippen und Studienplätzen und Gesundheitsfürsorge und freier Einreise und Aufenthaltsrecht für alle, die mühselig und beladen sind - hier bitte abladen. Wir haben es ja. Denn alles wird bezahlt durch saftige Steuern für die "Reichen", für die Kapitalisten und die Bosse und die Konzerne und die Multis. Und die Heuschrecken, mit denen Müntefering vor der Wahl die Wähler erschreckt und damit am Ende wohl noch ein Prozent mehr Stimmen geholt hatte, genug, um mit den Grünen und der Linkspartei zu regieren. Sieg im Volkskrieg. Klare Mehrheit im Bundestag und wunderbare Aussichten für alle. Und dann alles verloren, nur durch den "Verrat" von Müntefering und den andern alten Säcken ("Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!") gegen die tapfere Rebellin Andrea Nahles und die anderen SPD-Genossen von der "Parlamentarischen Linken". Durch diesen "Verrat" sei dann die große Koalition und damit wieder die Bosse an die Macht gekommen. Die Arbeiterbewegung habe eine Schlacht verloren. Aber nicht den Krieg.

Was sind das für Menschen, in welcher Zeit leben sie, die mit roten Fahnen und Transparenten in Berlin für "Karl und Rosa" aufmarschieren und zum Klassenkampf aufrufen, mit Notebook und Internet-Portal? Wo leben wir?

Klassenkampf und "Arbeiterbewegung", das hat es sicher einmal gegeben, das kann man nachlesen, da gab es auch schöne Lieder. Meist waren es umgedichtete Soldatenlieder wie "Argonnerwald um Mitternacht" oder das Lied über den Südtiroler Freiheitshelden Andreas Hofer ("Ihr sollt es nie vergessen, mein schönes Land Tirol" - woraus die Arbeiterbewegung flugs "Vorwärts, du Junge Garde des Proletariats" machte. Damit ließen sich ganz stubenwarme, kuschelige Heimabende des Ortsvereins mit "sauberen Mädels und starken Genossen" gestalten. Das gibt es alles noch in der deutschen Provinz, von Mecklenburg bis nach Kreuzberg, und keineswegs nur in den neuen Bundesländern und im Mitteldeutschen Rundfunk und seinen schönen alten Filmen aus der DDR, wo sogar die Krimis immer noch mal wiederholt werden, in denen selbst die Polizisten sich gegenseitig Genosse nennen. Genosse Leutnant, Genosse Hauptkommissar. Da kommt Freude auf und keiner schelte mir die Freude der Senioren und der jungen Ahnungslosen an der schönen alten Zeit. Das ist ebensowenig eine Sünde, wie Rosamunde-Pilcher-Filme zu sehen oder alte Ufa-Filme mit Heinz Rühmann. Warum sollen die neuen jungen Genossen und die eisgraue Reserve der Partei nicht die Spanienlieder von Ernst Busch immer noch mal wieder hören: "und eines Tags, wenn die Stunde kommt, wo wir alle Gespenster verjagen ...", das geht ihnen durch und durch. Und erst das Lied von der Einheitsfront "Reih dich ein in die Arbeiter-Einheitsfront, weil du auch ein Arbeiter bist!" Wer immer damals Arbeiter war, Brecht war es jedenfalls nicht, aber das Lied mit der Melodie von Hanns Eissler erhebt jeden. Das ist die Welt der neuen, alten "Arbeiterbewegung" und der Gemeinschaft der Klassenkämpfer, und davon gibt es in jedem kleinen Nest Deutschlands ein paar bärtige Männeken und ernst und besorgt blickende Frauen, und alle lesen täglich die "taz" und die "Frankfurter Rundschau", und die meisten von ihnen arbeiten in der Gewerkschaft. Als unbezahlte Funktionäre in den kleinen Ortsvereinen, aber auch weiter oben, wo sie ein Auskommen haben. Ihre Hoffnungen, ihre Illusionen und Phantasien von der "Arbeiterbewegung" und vom Kampf der Arbeiterklasse in aller Welt gegen den weltweiten Kapitalismus / Imperialismus bilden den Klangkörper, auf der solche Leute wie Lafontaine und Gysi virtuos spielen, die selber ohne Illusionen und Phantasien sind. Freilich nicht ohne Hoffnung auf noch mehr persönliche Macht. Und auch Leute wie Bsirske, der doch kürzlich erst in Berlin den Lohnverzicht der BVG-Arbeiter mit organisierte, wofür sich Wowereit bedankte als "bedeutenden Beitrag zur Sanierung des Landeshaushalts", und der jetzt die Trommel rühren läßt und die Trillerpfeifen und notfalls auch die Kindertagesstätten lahmlegen will und auch die Notdienste für die Straßenräumung bei der Schneekatastrophe gekündigt hatte! Nach ihm die Sintflut - und der Schnee.

In Stuttgart hatte die Polizei schon einen bestreikten Betriebshof gewaltsam geöffnet, um Räumfahrzeugen die Ausfahrt zum Winterdienst auf den verschneiten und vereisten Straßen zu ermöglichen. Da hörte der Spaß für die Bevölkerung auf. Eine allgemeine Empörung drohte. Da gab Ver.di nach und setzte den Notdienst überraschend wieder ein. Ver.di-Chef Frank Bsirske drohte aber schon am Freitag, dem 3. März 2006, wieder, die Gewerkschaft werde den Winterdienst und die Notdienste für Krankenhäuser kündigen, wenn die Arbeitgeber private Firmen oder Leiharbeiter einsetzten. Den letzten Satz muß man zweimal lesen, um ihn zu glauben. Den Notdienst für Krankenhäuser verweigern, heißt ja, Menschenleben in Gefahr bringen. Die schwere Schädigung von Kranken oder sogar den Tod in Kauf nehmen. War das nur ein Versprecher oder eine Drohung?

Für 18 Minuten Arbeitszeit pro Tag. Das schafft Arbeitsplätze, behauptet er, den Beweis muß er ja nicht führen, es kommt ja nie so weit.

Menschen wie Frank Bsirske und die weiteren hochbezahlten Funktionäre von Ver.di und der IG Metall sind bisher nicht in die SED oder Linkspartei eingetreten, obwohl ihr Herz, wie das von Oskar Lafontaine, links schlägt und sie offen mit der PDS sympathisieren. Die vielen kleinen Funktionäre sind längst drin und führen den virtuellen Klassenkampf weiter bis zum Endsieg (sic!). Trotz aller Niederlagen.

Das alles hat eine lange Geschichte, und die hat auch etwas mit Walter Ulbricht und sogar mit einem Streik der Berliner Verkehrsarbeiter zu tun.

Im November 1932, kurz vor der letzten wirklich freien Reichstagswahl, gab es einen Streik bei den Berliner Verkehrsbetrieben. Er richtete sich gegen den Berliner Senat, der von der SPD geführt wurde. Auch damals gab es eine Einheitsgewerkschaft der Verkehrsarbeiter, die ebenfalls von der SPD beherrscht wurde. Es ging bei diesem Lohnkampf um zwei Pfennig. Und die Kommunisten, die mit ihrer "Revolutionären Betriebsorganisation" (RGO) hoffnungslos in der Minderheit waren, führten den wilden Streik gegen ihre eigene Gewerkschaft und natürlich gegen die SPD. Die hauptamtlichen kommunistischen Gewerkschaftsbosse wurden angeführt von Walter Ulbricht, der auch vor einem Bündnis mit den Nationalsozialisten nicht zurückschreckte. Ul-bricht und Goebbels, der Berliner Gauleiter der NSDAP, zogen die Fäden. Der Streik, der eine Woche vor der Reichstagswahl ganz Berlin lahmlegte, kostete vier Todesopfer und endete mit einer vollständigen Niederlage der Streikenden. Hitler aber konnte zwei Monate später, am 30. Januar 1933, mit dem Hinweis auf den illegalen Streik der BVG-Arbeiter und die Zusammenarbeit zwischen den beiden Extremparteien die Übergabe der Kanzlerschaft an sich ertrotzen. Die Machtergreifung war das Ende der Weimarer Republik, und der Hitler-Stalin-Pakt ermöglichte den Aufstieg der blutigsten Diktaturen, die es je in Europa gegeben hatte. Die Nähe zum Gegner machte ihn möglich. So nannte man später den Berliner BVG-Streik eine Generalprobe für den mörderischen Hitler-Stalin-Pakt.

Was lernen wir aus der Geschichte? Nichts. Wenn wir nicht die Lehren aus ihr ziehen. Einige Menschen aber sind unbelehrbar. Sie propagieren weiter Kommunismus und Klassenkampf als Mittel der Politik. Aber nicht die Zyniker wie Gysi und Bsirske sind die Gefahr. Sondern die Gläubigen, die Unbelehrbaren, die das Lied vom Klassenfeind nachbeten und "Einst kommt der Tag der Rache" singen und von der Endzeit träumen, und aus diesen harmlosen, netten Leuten, die nach dem Ende der beiden Diktaturen noch geblieben sind, aus ihnen, den noch Schlafenden, aber auf die Erlösung Hoffenden - daraus rekrutiert der große Demagoge eines Tages seine Opfer, einer der großen Menschenverführer wie Hitler, Lenin oder Stalin. Ob der nächste Diktator Islamist sein wird oder Chinese, er kommt bestimmt.

Klaus Rainer Röhl veröffentlichte die erste wissenschaftliche Untersuchung über den Berliner BVG-Streik: "Nähe zum Gegner. Die Zusammenarbeit von Kommunisten und Nationalsozialisten beim BVG-Streik von 1932", Frankfurt / M., 1994 (Dissertation).

Überzeugter Idealist oder Rattenfänger: Frank Bsirske, Vorsitzender der Gewerkschaft ver.di, schwört die Streikenden ein. Foto: Reuters


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