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18.03.06 / Ringen um die Macht in Kiew / Die Wahlen werden zeigen, ob die Westler oder die Russophilen obsiegen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 18. März 2006

Ringen um die Macht in Kiew
Die Wahlen werden zeigen, ob die Westler oder die Russophilen obsiegen
von Martin Schmidt

Besorgt schauen die Machthaber in Washington und Moskau, in Brüssel und in Berlin auf die Ukraine: Am 26. März treten die Bürger des flächenmäßig zweitgrößten Landes Europas an die Wahlurnen, um über ihre Zukunft zu bestimmen. Die Ukraine steht mit ihren 47 Millionen Menschen an der sensiblen Schnittstelle zwischen russischen und westlichen Interessensphären. Zwar ist die einstige Sowjetrepublik seit der Orangenen Revolution zur Jahreswende 2004 / 2005, als den jungen Demonstranten in Kiew die Herzen der Welt zuflogen, aus den Schlagzeilen weitgehend verschwunden. Zur Ruhe ist das riesige Land seitdem jedoch keineswegs gekommen, geschweige denn zu politischer Stabilität.

Die Ukraine blieb auf vielfältige Weise zerrissen, und sie blieb ein armes Land, das eigentlich ein reiches sein könnte. Die Kornkammer Europas mit ihren fruchtbaren Schwarzerde-Böden verfügt über einen ergiebigen Bergbau, beträchtliche Unternehmenskomplexe in den Bereichen Metallindustrie und Maschinenbau sowie über reizvolle Touristenziele wie das von seiner langen Zugehörigkeit zur Donaumonarchie geprägte Kleinod Lemberg im Westen oder die Schwarzmeerküste mit der Krim im Süden.

Dennoch kommt das Land seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums nicht recht auf die Beine. Altlasten aus kommunistischer Zeit, Mißwirtschaft, Inflation und Korruption behindern die Entwicklung. Das größte Problem sind jedoch die kulturellen, ethnischen, wirtschaftspolitischen und sozialen Risse, die das Land spalten.

In den südöstlichen Regionen ist jeder dritte Bewohner Russe; hinzu kommen zahlreiche rußlandfreundliche Ukrainer, Weißrussen und Bulgaren. Auf der Krim leben nahezu gar keine Ukrainer, sondern beinahe ausschließlich Russen sowie aus Stalins Deportationsgebieten heimgekehrte Krimtataren.

Die Ostukraine, zu Zarenzeiten als "Kleinrußland" bezeichnet, und die lange von Türken und Tataren beherrschten südlichen Landesteile sind besonders dicht besiedelt, da sie zu Sowjetzeiten hochindustrialisiert waren und noch immer die meiste Wirtschaftskraft besitzen. Hier ist die Grundstimmung eindeutig pro-russisch.

Deutlich anders sieht es schon in der Zentralukraine aus, die von der Westukraine durch die kulturell bis heute stark nachwirkende alte Ostgrenze des einstigen Österreich-Ungarn geschieden wird. Dort hat die eigenständige ukrainische Identität in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten stetig zugenommen; zudem wird eine Vielzahl bürokratischer Versuche unternommen, das russische Erbe an den Rand zu drängen. Viele Angehörige der Eliten in und um Kiew haben von allem, was mit Rußland und der Sowjetära zusammenhängt, die Nase voll. Sie fühlen sich dem "Westen" zugehörig.

In der wirtschaftlich besonders schlecht gestellten Westukraine sind die kulturgeschichtlichen Einflüsse durch das alte Österreich, durch Polen und Rumänien bis heute spürbar. Die Bewohner West-Wolhyniens, Ost-Galiziens, der Karpatenukraine sowie des nördlichen Buchenlandes und des ukrainischen Nordzipfels von Bessarabien gelten als vergleichsweise fleißig und sollen weit weniger dem Alkohol zusprechen als ihre Landsleute im übrigen Staatsgebiet.

Einer Umfrage des Kiewer Instituts für Soziologie zufolge hat sich der prekäre West-Ost-Gegensatz 2005 noch weiter verfestigt. 35 Prozent der Bevölkerung meinen demnach sogar, daß sich die Landesteile feindlich gegenüberstehen.

Die großen inneren Verschiedenheiten schlagen auf die politische Szenerie voll durch. Bei den Präsidentschaftswahlen 2005, die geprägt waren von der schlagzeilen-trächtigen Orangenen Revolution des Winters 2004 / 2005, trat die Teilung des Landes offen zutage: Die West- und die Zentralukraine unterstützten überwiegend das jetzige Staatsoberhaupt Viktor Juschtschenko, während sich der Osten mit Prozentanteilen von nicht selten 85 Prozent hinter dessen Gegner Viktor Janukowitsch stellte. Der kurzzeitige Burgfrieden nach einem Kooperationsvertrag vom September 2005 ist Schnee von gestern und ging in einen oft unsauber geführten Vorwahlkampf über.

Bei der Parlamentswahl am 26. März scheinen die Fronten ebenso klar wie verhärtet: Das "orange" Lager vertritt eine Westausrichtung mit angestrebtem Nato-Beitritt und dem Fernziel der EU-Zugehörigkeit. Zur Russischen Föderation gehen die Westler auf Abstand und erinnern an die traumatischen Ereignisse des "Gasstreits" zum Jahreswechsel, als Moskau kurzzeitig mit Gas-Lieferstopp drohte.

Janukowitschs Oppositionsblock lehnt die Westorientierung ab und blickt statt dessen stärker auf Rußland. Oppositionelle Gruppen organisierten im Vorfeld des Urnengangs an über hundert Orten vor allem der Zentral- und Ostukraine Unterschriftensammlungen für Volksbefragungen gegen einen EU- und Nato-Beitritt.

Die Kiewer (Noch-) Machthaber reagierten darauf, indem sie weiter die Illusion eines baldigen EU-Beitritts nährten, von dem sich viele Menschen natürlich vor allem eines versprechen: umfassende Finanzhilfen. Doch die Europäische Union wird in ihrem heutigen Zustand schon größte Mühe haben, die geplante Erweiterung um Rumänien und Bulgarien wirtschaftlich, politisch und sozial zu verkraften. Die ukrainischen Hoffnungen sind da offenkundig auf Sand gebaut und enthüllen sich selbst als Wahlkampfgetöse der Regierung. Das weiß Kiew so gut wie Brüssel. Aber in der von Massenarmut gezeichneten Ukraine klammern sich viele Menschen an jeden denkbaren Strohhalm.

Manches spricht dafür, daß sich die vermeintlich unüberbrückbaren Gegensätze zwischen dem Regierungslager und der Opposition nach dem 26. März in Wohlgefallen auflösen könnten, um den Weg für eine große Koalition zwischen Teilen der "orangen" Kräfte, der Partei der Regionen und / oder dem "Bündnis Julia Timoschenko" zu eröffnen - frei nach deutschem Vorbild und eingedenk der Erkenntnis, daß sich die gewaltige Last der Probleme damit am ehesten auf die lange Bank schieben läßt. Obendrein wäre es für alle maßgeblichen Politiker die sicherste "karrierefreundliche" Lösung.

Das Rezept der künftigen Kiewer Machthaber könnte dann folgendermaßen aussehen: Man erhandelt sich gleichzeitig kleine Zugeständnisse und Finanzspritzen aus Brüssel und wirtschaftspolitische Freundlichkeiten aus Moskau. Der Spielraum für deutliche Akzentverschiebungen zur einen oder anderen Seite wäre minimal, die politische Halbwertzeit einer großen Koalition wohl gering. Als Führungsfigur einer derart gestrickten Regierung kommt vor allem eine Politikerin in Frage: Julia Timoschenko. Die attraktive Mittvierzigerin war eine Art Jeanne d' Arc der Orangen Revolution und stritt öffentlichkeitswirksam gegen Korruption, Mißwirtschaft und russische Einmischungsversuche.

Persönlichkeit wie Lebenslauf der resoluten Flechtzopf-Amazone sind ein Spiegelbild der kaum durchschaubaren gesellschaftlichen Verhältnisse der Ukraine. Als Kind einer Apparatschik-Familie entwickelte sich Timoschenko zu einer typischen Vertreterin der Perestrojka-Ära, schloß ihr Wirtschaftsstudium mit Auszeichnung ab und begann Mitte der 80er Jahre eine atemberaubende Karriere. Reichlich Anlaß für Spekulationen bietet der Umstand, daß die zeitweise als reichste Frau der Ukraine geltende Wirtschaftsexpertin zwar als besonders rußlandkritisch gilt, nach wie vor aber enge Kontakte zum Energiekonzern Gasprom sowie zum russischen Botschafter in Kiew unterhält.

Der seit der Entmachtung Timoschenkos schwer in Bedrängnis geratene Präsident Juschtschenko sah sich zur Kungelei mit dem alten Widersacher Janukowitsch und dessen mehr als zweifelhaften ostukrainischen Seilschaften gezwungen. Während der Orangen Revolution noch begeistert als Sympathieträger seines Volkes gefeiert, vollführt Juschtschenko heute eine undurchsichtige Drahtseilpolitik im Stile des Vorgängers Kutschma, um mühsam das Gleichgewicht zwischen verschiedensten Einflußgruppen auszutarieren. Nachhaltige politische Veränderungen werden so indes verhindert.

Da das Land zwischen Karpaten und Donezbecken jedoch geopolitisch viel zu wichtig ist, um international einen Dornröschenschlaf zu halten, wird das Ringen um seine langfristige Orientierung weitergehen. Gerade die US-Regierung wird im Mächtespiel um die Ukraine unbedingt ihr Gesicht wahren wollen angesichts der ständigen Demütigungen der Supermacht im Irak und der jüngsten außenpolitischen Pleitenserie in Südamerika, wo eine anti-amerikanische Linksregierung nach der anderen an die Macht gelangte.

Aber auch für Putins Rußland bleibt der südwestliche Nachbar aus wirtschaftlichen, aber auch historisch-kulturellen wie geostrategischen Gesichtspunkten als Sprungbrett nach Mittel- und Westeuropa eine äußerst wichtige Interessensphäre. Dementsprechend ist ein Ende der inneren wie äußeren Schaukelpolitik der Ukraine nicht absehbar.

Die Ukraine ist ein gespaltenes Land

Julia Timoschenko wird zur entscheidenden Figur


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