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18.03.06 / Gefühlsfetzen / Traumaarbeit einer Vertriebenen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 18. März 2006

Gefühlsfetzen
Traumaarbeit einer Vertriebenen

Auf den ersten Blick mag Sigrid Baschek für Außenstehende ein ganz normales Leben geführt haben, doch im Untergrund brodelten dunkle, verdrängte Schrecken aus der Kindheit. Erst als ihre Mutter nach langer Krankheit starb, brachen aus der verheirateten Sonder- und Sprachheilpädagogin die dunklen Geister der Vergangenheit hervor. Starke Schmerzen machten der 1939 in Elbing Geborenen ein normales Leben unmöglich, doch körperliche Ursachen waren nicht auszumachen. Sigrid Baschek litt vielmehr unter den nie aufgearbeiteten Schrecken von Flucht und Vertreibung. Über ihre Erlebnisse von damals hat sie nie viel geredet. Zudem war sie damals fünf Jahre alt und hat vieles nur unterbewußt wahrgenommen und sich somit nie vergegenwärtigt. Statt in Worten zu fassende Geschehnisse lagen Sigrid Baschek diffuse Gefühlsfetzen auf der Seele. Erst der Besuch eines Therapeuten und die detaillierte Niederschrift ihrer Erinnerungen haben es der Gepeinigten möglich gemacht, wieder ein wirklich normales Leben zu führen.

In "Wo sind meine Schuhe? Was ist ein Trauma und wie bewältigt man es?" läßt Sigrid Baschek den Leser minutiös an ihrer Traumaarbeit teilhaben. Sie berichtet, wie sie im Flüchtlingszug in der Menschenmenge verlorengegangen ist und nur durch das beherzte Einschreiten ihrer Mutter aus der Menge über die Köpfe der anderen Menschen hinweg zu ihr gereicht wurde. Hierbei verlor Sigrid ihre geliebten Lackschuhe und mußte von da an um ihre Füße gewickelte Lappen tragen. Und egal wo sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder hinkam, überall wollte man die Flüchtlinge nicht haben. Da Sigrid Baschek damals jedoch noch zu klein war, um zu begreifen, was um sie geschah, sind nur Einzeleindrücke zurückgeblieben, die sie nun gut 60 Jahre später für sich deuten mußte.

Doch schlimmer noch als die Flucht traumatisierte der Verlust des Vaters. " Nachdem das Glück uns verlassen hatte, nach der Flucht, machte ich mir als kleines sechs- bis siebenjähriges Mädchen meine eigene Lebensphilosophie. Zu viert sind wir etwas ganz Wertvolles und Besonderes gewesen. Jetzt sind wir nur noch zu dritt, eben nichts Besonderes, eben kein Glückskleeblatt. Das Glück hatte uns verlassen ..."

Damit der Leser nicht mit der ganz persönlichen und häufig auch schwer nachvollziehbaren Traumaarbeit der Autorin alleingelassen wir, erklärt am Ende des Buches Herta Betzendahl, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie und Psychoanalyse, was ein Trauma ist und welche Auswirkungen es auf das Leben eines Menschen haben kann. Der knapp gehaltene, theoretische Teil hilft Sigrid Bascheks Aufzeichnungen besser einzuordnen. R. Bellano

Sigrid Baschek / Herta Betzendahl: "Wo sind meine Schuhe? Was ist ein Trauma und wie bewältigt man es?", Ellert und Richter, Hamburg 2005, geb., 165 Seiten, 14,95 Euro


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