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25.03.06 / Aktion gelungen - Chaos perfekt / Kurz vor Wahlen in Israel häufen sich die Katastrophenmeldungen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 25. März 2006

Aktion gelungen - Chaos perfekt
Kurz vor Wahlen in Israel häufen sich die Katastrophenmeldungen
von Sverre Gutschmidt

Morgens um neun Uhr verlassen die Wachen unauffällig ihr Gefängnis, die Insassen ahnen nichts davon, erwarten die tägliche Routine oder klammern sich an die Hoffnung auf Freilassung, die in jüngster Zeit von ihrem Staatspräsidenten genährt wurde. Das Gefängnis ist ein heruntergekommenes Bauwerk in Jericho, im Palästinensergebiet, bewacht von Agenten zweier ausländischer Geheimdienste (US-amerikanischer CIA und britischer MI5), die an jenem Morgen abziehen, um einer anderen, den Insassen verhaßten Macht die Stürmung des Gefängnisses zu erleichtern. Panzer

rücken an, Mauern fallen. Was wie ein orientalischer Agententhriller beginnt, hat sich am vorvergangenen Dienstag in Jericho im Westjordanland zugetragen und erhitzt seither die Gemüter der Palästinenser. Der Zwischenfall beeinflußt womöglich entscheidend den Ausgang der Wahlen in Israel am 28. März. Schlüsselfiguren zum Verständnis dieser Erstürmung sind der israelische Tourismusminister Rechwam Seewi und der Chef der "Volksfront zur Befreiung Palästinas" Ahmad Saadat. Seewi wurde 2001 ermordet, Saadat, mutmaßlicher Drahtzieher des Anschlags, lebt seitdem auf der Flucht beziehungsweise verschanzte sich im seinerzeit von Israelis umstellten Palästinenser-Hauptquartier Jassir Arafats. Der im November 2004 verstorbene Palästinenserpräsident Arafat handelte auch die Bedingungen der Haft Saadats aus: Keine Auslieferung an Israel, sondern Gefängnis in Jericho unter westlicher Aufsicht. Damit ist es vorbei - Israel holte Saadat und mehrere Gefolgsleute, bevor die Palästinenser ihre Ankündigung, sie freizulassen, umsetzen konnten.

Die spektakuläre Aktion kommt im israelischen Wahlkampf der amtierenden Regierung Ehud Olmert und seiner im Herbst 2005 durch den Eintritt Ariel Sharons erst chancenreich gewordener Kadima-Partei zugute. Der konkurrierenden Likud-Partei und ihrem Kandidaten Benjamin Netanjahu blieb nichts übrig, als den Vorstoß, bei dem kein Israeli zu Schaden kam, zähneknirschend zu loben: "Eine gelungene Aktion verändert noch nicht eine insgesamt falsche Politik." Saadat hatte sich noch vor Wochen ebenfalls als Wahlkämpfer betätigt. Ungehindert feuerte er aus dem Gefängnis seine radikal-marxistische "Befreiungsfront" an.

Während Israel Saadats erzwungene Verbringung dementierte, brachen im Gaza-Streifen Aufstände aus, die sich gegen westliche Einrichtungen richteten. Das Ereignis hat eine Doppelwirkung: In Israel wird die Führung der Kadima-Partei - erst gefährdet durch Korruptionsvorwürfe und den Koma-Zustand des eigentlichen Spitzenkandidaten Ariel Sharon - wieder stabilisiert, Palästina schliddert in eine dramatische Führungskrise. Israel, die USA und der Westen verstärken angesichts der konsequenten Weigerung der Hamas, Israel anzuerkennen, sowie angesichts brennender europäischer Kultureinrichtungen in Palästina nebst dort entführten Europäern den Druck. Die Anerkennungsforderung wurde freilich der Fatah so nie gestellt. Dennoch sitzen Hamas wie Fatah im selben Boot. Es geht um den finanziellen Fortbestand der Autonomie, sagt der palästinensische Chefunterhändler Sajeb Erekat. Was keiner sagt: Auch der Nimbus des Freiheitskampfes ist vor dem Hintergrund der ungewohnt heftigen Reaktionen der Palästinenser auf die Saadat-Verschleppung in Gefahr. Selbst Palästinenser-Ministerpräsident Ismail Hanija sei nicht tabu, wenn gezielte Tötungen notwendig seien, verkündet Israel. Hanija beteuert sofort im US-Fernsehen, nie einen Selbstmordanschlag angeordnet zu haben. Ein Schritt, der Wirkung zeigte - Amerika nahm es zur Kenntnis, Israel relativierte seine Vorwürfe gegen Hanija. Dessen Partei hat angesichts stockender Verhandlungen ohne die vom Westen favorisierte Fatah eine Regierung gebildet - Palästinenserpräsident Abbas (Fatah) sei unfähig, mit der Besatzung klarzukommen. Zeitgleich bekundet Abbas Solidarität mit Hamas, kritisiert Israel, gezielt die Fatah schwächen zu wollen, und ruft Ausländer angesichts des Saadat-Vorfalls zum Verlassen Palästinas auf. Israel wiederum setzt Abbas unter Druck, nicht der Verwandlung der Autonomie- in eine "Terrorbehörde" zuzustimmen - Chaos total. Die Hamas-Regierung hat den denkbar ungünstigsten Start. In Gaza droht wegen der von Israel geschlossenen Grenze eine Hungersnot, Israel will den neuen Hamas-Ministern die Durchfahrt verweigern, und der neue Außenminister im Hamas-Kabinett wird in Israel als Terrorist gesucht.

Am Vorabend der Israel-Wahl häufen sich damit die Katastrophenmeldungen - in Israel bricht die Vogelgrippe aus, in den Palästinensergebieten die Gewalt. Die spektakuläre Überführung der Gefangenen wirkt wie eine Initialzündung. Der Zorn der Palästinenser auf die Westler, deren Wachen in Jericho nach palästinensischem Verständnis die Gefangenen unter Einsatz des Lebens hätten verteidigen müssen, heizt den Konflikt um die neue Hamas-Regierung weiter an. Derzeit größtes Manko der Palästinenser: Die Autonomiebehörde in Ramallah ist abhängig von westlicher Hilfe, um auch nur die notwendigsten öffentlichen Aufgaben wahrzunehmen. Ein sofortiger Stop der Hilfen, begründbar durch ungebrochene Radikalität der Hamas, hätte den Zusammenbruch des Schul- und Gesundheitswesens der Palästinenser zur Folge. Somit ist auch der Westen in das Dilemma verwickelt. Er muß noch wenigstens einige Wochen Geld fließen lassen, will er die Palästinensergebiete nicht austrocknen. Betrachtet man das neue Hamas-Kabinett, in dem die Radikalen den Ton angeben, dürfte dies dem Westen schwerfallen.

Während Israel einem Sieg der Kadima entgegensteuert und somit auch der langfristigen Aufgabe seiner Siedlungen in den besetzten Gebieten, ist die Zukunft der palästinensischen Selbstverwaltung mehr als ungewiß. Dies um so mehr, da ihre anderen Geldgeber, die Saudis und die wohlhabenden Golf-Öl-Staaten vorsorglich erklären, sie wollten den Anteil des Westens an der Palästinenser-Förderung nicht übernehmen.

Hamas-Kabinett zwischen Haß und Geldnöten

Ruinenfeld: Palästinas Flagge weht über dem von Israelis zerstörten Gefängnis in Jericho. Foto: Reuters / Corbis


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