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25.03.06 / Tod eines kritischen Mahners / Mit Lennart Meri verstarb einer, der den Schuldkult der Deutschen offen tadelte

© Preußische Allgemeine Zeitung / 25. März 2006

Tod eines kritischen Mahners
Mit Lennart Meri verstarb einer, der den Schuldkult der Deutschen offen tadelte
von Hans Heckel

Wer es im 20. Jahrhundert zu einer politischen Spitzenposition gebracht hatte, war selten ohne Brüche durchs Leben gekommen. Diese Epoche belauerte ihre Zeitgenossen von allen Seiten mit Verlockungen und Versprechungen einer besseren Welt, die sich nicht selten als Albtraum entpuppten. Sie verschlang selbst die Integren, um sie gefangen in einem Knäuel aus Verstrickung, Schuld oder Irrtum wieder auszuspeien.

Das betrifft längst nicht nur die, die bereits in der ersten Hälfte des Jahrhunderts Verantwortung trugen. Angesichts der Teilung Europas und der fortwährenden Unterdrückung im Osten versagten Politiker und Intellektuelle auch später reihenweise. Nur hatte die Lüge ein anderes Gesicht bekommen. Die Flucht in linkische Beflissenheit war an die Stelle der hohlen heroischen Phrase getreten - garniert mit moralischem Sermon und der dauernden Bereitschaft zur Verurteilung anderer, die man nun zur "Bewältigung" nötigen wollte, um nur selbst keine Rechenschaft ablegen zu müssen. Diese Ära hat ihren eigenen Politikertypus ausgeworfen. Er strahlt schwammige Unruhe aus. Selbst wenn er es einmal ehrlich meint, fällt es dem Zeitgenossen schwer, ihn für echt zu halten. Der Ruf des Politikerberufs ist schlechter denn je.

Eine der Ausnahmen von der traurigen Regel war Lennart Meri. Wer dem am 14. März verstorbenen estnischen Präsidenten a. D. begegnete, spürte vom ersten Moment an, daß er einem anderen Typ Politiker gegenüberstand. Meri strahlte die innere Ruhe eines Gelehrten aus, der von dem Jahrhundert der Lüge genug gesehen hatte, um dessen Blendwerk zu verachten, beiseite zu schieben und mit dem unbedingten Willen zur Wahrhaftigkeit der Fratze ins Gesicht zu lächeln.

Als Sohn eines Diplomaten der jungen Republik Estland erblickte Lennart Meri am 29. März 1929 in Reval das Licht der Welt. Der Beruf des Vaters führte den Jungen früh in alle Welt, er lernte Finnisch, Französisch, Deutsch, Englisch, Russisch und Lateinisch (letzteres auch sprechen). Als die Sowjets die kleine Baltenrepublik im Juni 1940 besetzten, waren die Meris jedoch wieder in Estland. Als Kind erlebte er die rabiate Sowjetisierung seiner Heimat.

Am 14. Juni begannen die zwölf finstersten Jahre seines Lebens. Am frühen Morgen jenes Tages marschierten russische Soldaten mit zwei estnischen Handlangern in sein Elternhaus: 20 Minuten zum packen, dann ging es auf dem offenen Lastwagen zum Revaler Hafen, wo die Züge für die Deportation nach Sibirien warteten. Den Vater trennten die Sowjets von der übrigen Familie. Mit einem Klaps auf die Schulter eröffnete ihm sein Vater, daß nun er der Mann in der Familie mit seiner Mutter und dem kleineren Bruder sei. Die Kindheit des Zwölfjährigen endete damit, daß er seinem Vater hinterher sah, wie er von zwei sowjetischen Soldaten davon geführt wurde. Als Meris Familie nach Estland zurückkehren durfte, war er doppelt so alt.

In Sibirien mußte er als Holzfäller schuften, oder als Kartoffelschäler oder Flußruderer, um sich und die Seinen durchzubringen.

Nach der Rückkehr 1953 begann er ein Studium an der Geschichts- und Sprachfakultät der Universität Dorpat. Historiker zu werden verboten ihm jedoch die Kommunisten, also begann Meri, als Theaterdramatiker zu arbeiten, und produzierte später Hörspiele. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich mit dem Schreiben und brachte 1958 sein erstes Buch heraus. Sein Vater wurde noch mehrmals von den Sowjets verhaftet, seinem jüngeren Bruder wurde verboten, das Abitur zu machen. So war Lennart Meris Arbeit auch für das Durchkommen der Familie unentbehrlich.

Mit Reise- und Expeditionsberichten erlangte er Popularität, 1976 folgte ein Werk über die Geschichte Estlands und des Ostsseeraums. Weitere historische Schriften folgten.

1986 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Helsinki, 1988 gründete Meri das "Estnische Institut" - eine nichtstaatliche Einrichtung, die den Studentenaustausch mit den nichtsozialistischen Ländern und den kulturellen Dialog mit ihnen ankurbelte.

1991 war Meri Mitbegründer der "Estnischen Volksfront", der Befreiungsbewegung des kleinen Volkes von der schwindenden Sowjetherrschaft. Nach kurzer Zeit als Botschafter in Finnland setzte sich Lennart Meri bei den Präsidentschaftswahlen 1992 gegen den einstigen estnischen KP-Chef Arnold Rüütel durch und wurde so Estlands zweiter Präsident.

Die Verbundenheit seines Landes mit Deutschland hat Lennart stets hervorgehoben. Ohne das Auftauchen der Hanse und der deutschen Ordensritter im Mittelalter wäre das estnische Volk schon vor langer Zeit im Russentum untergegangen. Der starke deutsche Einfluß habe sein Land für immer geprägt. "Unsere Bräuche, unsere Lieder, ja sogar unsere Denkweise sind Ergebnis einer 800 Jahre alten Zugehörigkeit zum deutschen Kulturraum", so der Staatschef. Selbst "die Rebe der estnischen Sprache ist am deutschen Weinstock emporgewachsen, und wir empfinden einen aufrichtigen Dank und tiefe Achtung vor der missionarischen Hingabe der Gärtner".

Für Esten, die es nicht so gern hörten, wenn ein Deutscher Reval statt Tallinn sage, hatte er wenig Verständnis. Die deutschen Bezeichnungen seien entlehnt von älteren estnischen Namen und seien niedergeschrieben worden von den Deutschen zu einer Zeit, "als die Esten die Kunst des Schreibens noch nicht beherrschten". "Dorpat" und "Tartu" leiteten sich somit beide her aus dem altestnischen Wort für Auerochse: Tarbatu, belehrte er einmal seine Zuhörer.

Die Botschaft solcher Ausflüge in die Winkel der Sprachgeschichte schob Meri gleich nach: "Wir müssen endlich die nationalistischen Komplexe aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg überwinden und verstehen, daß wir von unserer gemeinsamen Heimat, von einem einheitlichen Kultur- und Rechtsraum sprechen, der zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gehörte."

Mit dem heutigen Deutschland hatte Meri in seiner selbstbewußten Offenheit allerdings auch seine Probleme. 1995 lud ihn die politische Führung Berlins ein, die Festrede zum fünften Jahrestag der deutschen Einheit zu halten. Er las ihr die Leviten und prägte das Wort von der "Canossa-Republik Deutschland". Wörtlich schrieb er der versammelten Politikerelite der Bundesrepublik ins Stammbuch: "Deutschland ist eine Art Canossa-Republik geworden, eine Republik der Reue. Aber wenn man die Moral zur Schau trägt, riskiert man, nicht ernst genommen zu werden. Als Nichtdeutscher erlaube ich mir die Bemerkung: Man kann einem Volk nicht trauen, das sich rund um die Uhr in intellektueller Selbstverachtung übt. Um glaubwürdig zu sein, muß man auch bereit sein, alle Verbrechen zu verurteilen, überall in der Welt, auch dann, wenn die Opfer Deutsche waren oder sind. Für mich als Este ist es kaum nachzuvollziehen, warum die Deutschen ihre eigene Geschichte so tabuisieren, daß es enorm schwierig ist, über das Unrecht gegen die Deutschen zu publizieren oder zu diskutieren, ohne dabei schief angesehen zu werden - aber nicht etwa von den Esten oder den Finnen, sondern von den Deutschen selbst." Diese Offenheit hatten die Honoratioren der Bundesversammlung wahrlich nicht erwartet und waren - trotz höflichem Beifall - einigermaßen verstimmt.

Den heimatvertriebenen Baltendeutschen bot Meri mehr als nur einmal die Rückkehr in ihre estnische Heimat an, um dort zu leben. Seine Dankesrede zur Verleihung der Ehrenplakette des Bundes der Vertriebenen in Stuttgart 1999 schloß er mit den Worten: "Von ganzem Herzen willkommen!"

Meri wäre am 29. März 77 Jahre alt geworden. Seine zweite Frau Helle hat ihren Mann verloren, ihre drei Kinder den Vater, vier Enkel ihren Großvater und Deutschland einen großen, aufrichtigen Freund.

Freund der Deutschen: Estlands Ex-Staatspräsident Lennart Meri Foto: pa


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