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22.04.06 / "Verbrechen ohne Sühne" / Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl - 20 Jahre danach

© Preußische Allgemeine Zeitung / 22. April 2006

"Verbrechen ohne Sühne"
Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl - 20 Jahre danach

Drei Jahrzehnte lang, seit dem Hochfahren der ersten Atomreaktoren, mit denen Elektrizität erzeugt werden konnte, hatten alle auf diesen Moment gewartet. Die einen voller Bangen, weil sie ahnten, daß ihre ständigen Versicherungen, Kernkraft sei die sicherste und sauberste Energie, nur bis zum ersten GAU halten konnten. Die anderen, weil sie einen solchen GAU (Abk. für "Größter Anzunehmender Unfall") geradezu brauchten, um nicht auf immer und ewig als ideologisch verblendete Weltuntergangspropheten abgestempelt zu sein.

Zwei Jahrzehnte lang, seit jenem 26. April 1986, wird nun darüber gestritten, wie der GAU von Tschernobyl zu bewerten sei. Die einen verweisen unermüdlich darauf, daß damals nicht die Kernenergie schlechthin, sondern lediglich deren sowjetische Variante so schrecklich gescheitert sei. Die anderen pochen darauf, die Menschheit sei es den Opfern von Tschernobyl schuldig, jegliche Nutzung der Atomkraft zu unterlassen.

Umstritten sind auch die Opferzahlen, ebenso wie die Ursachen und Verantwortlichkeiten. Anfangs wurde die Katastrophe von sowjetischen Behörden mit der Zahl von angeblich nur 20 Toten verharmlost. Vor einem halben Jahr kam das "Tschernobyl-Forum" (bestehend aus UN, IAEA und den Regierungen Rußlands, Weißrußlands und der Ukraine) bereits auf 9000 Todesopfer. Nach jüngsten Erkenntnissen der "Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs" (IPPNW; ein Jahr vor Tschernobyl Friedensnobelpreisträger) ist auch diese Zahl noch viel zu niedrig: Allein unter den Aufräum-Mannschaften seien 90000 Tote zu beklagen gewesen, unter der Zivilbevölkerung sogar 175000.

Zahlen in dieser Größenordnung bestätigt auch die russische Journalistin Alla Jaroschinskaja, deren Buch "Prestuplenie bes nakasania. Tschernobyl 20 let spustja" (zu Deutsch: "Verbrechen ohne Sühne - Tschernobyl 20 Jahre später") in Kürze erscheint. Durch Zufall war sie an streng geheime Protokolle einer Sitzung des Politbüros des ZK der KPdSU am 3. Juli 1986 gelangt. Daraus ergibt sich zweifelsfrei: Der engste Führungskreis der Sowjetunion wußte bereits seit vielen Jahren, daß die Reaktoren vom Tschernobyl-Typ hochgradig störanfällig waren. Vor Michail Gorbatschow, dem ein Jahr zuvor ins Amt gekommenen Generalsekretär, war dieses schreckliche Wissen strikt geheimgehalten worden.

So erfuhr der Reformer, der unter den Begriffen Glasnost und Perestroika gerade begann, behutsam mit neuer Offenheit gegenüber der Öffentlichkeit zu experimentieren, erst an diesem 3. Juli, daß schon drei Jahre zuvor das Moskauer Energieministerium empfohlen hatte, die Tschernobyl-Reaktoren als gefährlich einzustufen und keine Kraftwerke dieses Typs mehr zu bauen.

Im elften Fünfjahresplan der Sowjetunion (1979 bis 1984) sind sind 1042 Notabschaltungen in sowjetischen Kernkraftwerken verzeichnet. Allein in Tschernobyl waren es 104, von denen 35 durch das Personal verschuldet waren. Im September 1982 hatte es hier auch schon eine größere Explosion gegeben.

Gorbatschow reagiert mit Unverständnis auf diese ihm bislang unbekannten Zahlen und Fakten. Er bohrt nach und erfährt, daß seit dem Baubeschluß für den Tschernobyl-Typ im Jahre 1956 (!) sich offenbar niemand mehr für Sicherheitsfragen interessiert hatte. Der stellvertretende Energieminister Schascharin muß einräumen, daß viele AKW (zum Beispiel Kursk, Ignalinsk in Litauen oder Leningrad, heute St. Petersburg) nicht einmal über ein Notkühlsystem verfügen. Entwicklungschef Alexandrow versucht, sich mit der Lüge herauszureden, der Tschernobyl-Typ sei in allen entwickelten Ländern Standard.

Dieses Sitzungsprotokoll und die weiteren Recherchen Alla Jaroschinskajas belegen, daß die sowjetische Führung jahrzehntelang auf menschenverachtende Weise nur wirtschaftliche und machtpolitische Interessen verfolgte. Sicherheit war kein Thema. So war ein bereits 1971 vorgelegter Notfallplan bis 1986 noch nicht einmal ansatzweise umgesetzt.

Was hat der GAU von Tschernobyl - über die Opferzahlen hinaus - bis heute bewirkt? Mit Sicherheit hat er den Zerfall des Sowjetkommunismus beschleunigt, nicht zuletzt, weil Gorbatschow im Gegensatz zu seinen Vorgängern die Herausforderung annahm, statt wie gehabt alles "unter den Teppich zu kehren". Im Westen ließ der katastrophale Unfall sich erfolgreich für einen Ausstieg aus der Kernkraftnutzung instrumentalisieren. Ob er in Zukunft, angesichts einer weltweiten (irgendwann vielleicht auch in Deutschland?) Renaissance der Atomenergie zu einer neuen, noch strengeren Sicherheitsphilosophie führen wird, bleibt abzuwarten. Dies wäre das mindeste, was wir und die künftigen Generationen den Opfern von Tschernobyl schuldig bleiben. H.J.M / MRK.

200 Meter entfernt vor Reaktor 4 in Tschernobyl: Ein Wert von 0,014 Microröntgen bei Kernkraftwerken ist erlaubt. Fotos (2): Corbis

Tschernobylopfer: Noch heute erkranken Kinder an Leukämie.


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