19.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
22.04.06 / Bürger - Einwohner - Mitbürger / Steht das traditionelle Bürgertum vor der Auflösung? - Wie mit Begriffen Politik und Stimmung gemacht werden

© Preußische Allgemeine Zeitung / 22. April 2006

Bürger - Einwohner - Mitbürger
Steht das traditionelle Bürgertum vor der Auflösung? - Wie mit Begriffen Politik und Stimmung gemacht werden
von Rudolf Dorner

Kaum ein Begriff des alltäglichen Sprachgebrauchs wird derart unpräzise und gedankenlos verwendet wie der des Bürgers.

Gemeinhin wird darunter schlicht jeder Einwohner oder Bewohner einer Gemeinde mit registriertem oder wie man sagt, "festem" Wohnsitz verstanden. Bekanntlich leitet sich das Wort "Bürger" von "Burgbewohner" ab, der geschützt innerhalb der Burgmauern wohnte, während sich das andere "Volk" außerhalb der Mauern niederlassen mußte. Die Differenzierung blieb auch nach Urbanisierung des Landes bestehen. Bürger einer freien Reichsstadt zu werden, war an ganz bestimmte Voraussetzungen geknüpft, wie Haus- und Grundbesitz, Ausübung bestimmter Berufe, die Fähigkeit, seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können, die Entrichtung einer Bürgersteuer. Die Hürden waren von Stadt zu Stadt unterschiedlich hoch und viele Anwärter mußten eine lange Bewährungszeit in Kauf nehmen, bis sie den begehrten Bürgerbrief ausgehändigt bekamen. Man war stolz, dem Bürgerstand anzugehören.

Waren es über Jahrhunderte hinweg mehr oder weniger materielle und standesmäßige Merkmale, die das mittelalterliche Bürgertum kennzeichneten, so brachte die Französische Revolution von 1789 einen tiefgreifenden Einschnitt mit sich. Die Devise "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" stand zum bislang festgefügten gesellschaftlichen Ordnungssystem in krassem Widerspruch. Ideologische, politische und staatsrechtliche Postulate bestimmten von nun an den gesellschaftlichen Status. In der "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" im Jahr 1789 und in der französischen Verfassung von 1791 fanden die Ideen für die Schaffung einer egalitären Bürgergesellschaft ihren deutlichen Niederschlag. Fortan war statt vom "bourgeois", dem Erwerbs- und Besitzbürger, vom "citoyen", dem neu geschaffenen Staatsbürger, die Rede, zu dessen Leitbild die Ziele der Revolution "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" erhoben wurden. Der wohlhabende bourgeois wurde ob seiner auf Eigennutz und Erhaltung seines Besitzstandes gerichteten Einstellung sowie seiner passiven Haltung gegenüber der Allgemeinheit meist als bloßer "Nutznießer" betrachtet. Zwei wesentliche Faktoren der Französischen Revolution brachten neue, umwälzende Änderungen für das konservative Bürgertum: die begriffliche und rechtliche Entwicklung des Stadt- oder Ortsbürgers zum Nationalbürger bzw. Staatsbürger (der selbstverständlich Franzose sein mußte) und die in der "Declaration des droits de l'homme et du citoyen" vom 26. August 1789 niedergelegten Menschenrechte, die dann in der Verfassung von 1791 noch wesentlich erweitert wurden. Die Verknüpfung von Bürgerrechten und Menschenrechten hat bei der Konzeption der in Europa neu entstehenden Nationalstaaten zu kontroversen Diskussionen geführt. Denn Menschenrechte stehen ihrem Wesen nach jedem Menschen zu, während der Staat seinen Bürgern auch Pflichten auferlegt. Kein Staat ist auf Dauer existenzfähig, der seinen Angehörigen nur Rechte gewährt und Nicht-Staatsbürger von jeglichen Pflichten freistellt. Damit würde er sich nicht nur seiner materiellen Grundlagen berauben, sondern auch gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen. - Die "Errungenschaften" der Französischen Revolution haben sich im deutschen Bürgertum, mit Ausnahme der französisch orientierten Rheinprovinzen, nicht durchgesetzt. Das städtische Bürgerrecht war bis ins späte 19. Jahrhundert hinein an Grundbesitz und Berufe geknüpft. Auch nach den preußischen Reformen bestanden vielfach Privilegien, Ausnahmeregelungen und Rangunterschiede, die im Zunft- und Standeswesen wurzelten. Durch die Aufklärung und den politischen Liberalismus setzte sich aber zunehmend die Erkenntnis vom immateriellen Wert der Bildung durch. Damit wurde der Erwerb der Bürgerrechte für die gebildeten, aber besitzlosen Schichten ermöglicht. Aufstiegschancen bot hier der Staatsdienst, speziell Verwaltung, Justiz, Militär und wissenschaftliche Einrichtungen, wie Universitäten, Akademien und andere wissenschaftliche Institute. Im Zuge der Industrialisierung entstand dann die neue Schicht der Wirtschaftsbürger, während die rasch wachsende Schicht der lohnabhängig Beschäftigten dem Stand der Einwohner, auch vierter Stand genannt, zugeordnet wurde. Ihre Mitbestimmungsmöglichkeit in öffentlichen Angelegenheiten war durch das Zensuswahlrecht stark eingeschränkt beziehungsweise ausgeschlossen. Bekannt ist das in Preußen 1849/50 eingeführte Dreiklassen-Wahlrecht, das erst in der Novemberrevolution von 1918 abgeschafft wurde. In seiner Verfassung vom 16. April 1871 hat das Deutsche Reich auf die Aufnahme von Grund- und Bürgerrechten verzichtet, übrigens ebenso die französische Verfassung von 1875. Der aus zahlreichen Kleinstaaten entstandene deutsche Nationalstaat machte es unumgänglich, die Staatsbürgerschaft an andere Voraussetzungen zu knüpfen als die Stadt- und Ortsbürgerschaft. Bedingt durch neue, umfangreiche Aufgaben wie neuer, nationaler Institutionen und Körperschaften, eines stehenden Heeres sowie einheitlicher Reichsgesetze, sah sich der Nationalstaat gezwungen, seinen Schutzbefohlenen gleiche Rechte einzuräumen und ihnen aber zugleich als Gegenleistung neue oder größere Pflichten aufzuerlegen. Hier sei besonders die allgemeine Steuerpflicht und die allgemeine Wehrpflicht genannt. Das Gros der Bürger konnte auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis nach dem Ersten Weltkrieg keinen nennenswerten Einfluß auf politische Entscheidungen nehmen. Dennoch spielte das deutsche Bürgertum in Wirtschaft, Wissenschaft, Rechtswesen und Kultur eine herausragende Rolle.

Mit anderen Worten: Es bildete die staatstragende Schicht. Sein Lebensstil galt sowohl als prägend als auch als erstrebenswert. Kurzum: Das Bürgertum setzte Maßstäbe. Sind diese Maßstäbe in der Gesellschaft von heute noch gültig oder was hat sich verändert?

Noch nie in der neueren Zeitgeschichte Deutschlands hat sich ein derart starker wirtschaftlicher, mentaler und gesellschaftlicher Umbruch vollzogen wie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Hatte das Bürgertum schon durch die Folgen des Ersten Weltkriegs - Weltwirtschaftskrise, Inflation und politische Umwälzungen Ein-bußen erlitten, so brachte der totale politische, wirtschaftliche und staatliche Zusammenbruch ab 1945 eine bislang nicht gekannte Zerstörung des Staatsgefüges und der herkömmlichen bürgerlichen Ordnung mit sich. Nachdem der Bombenkrieg schon nahezu alle Städte zerstört hatte, strömten nun 15 Millionen Menschen aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches und Volksdeutsche aus den deutschen Siedlungsgebieten in Ost- und Südosteuropa in das weitgehend verwüstete und in vier Besatzungszonen aufgeteilte Restdeutschland. Ob es sich um geflohene oder vertriebene Reichsbürger oder um ausgewiesene Volksdeutsche handelte, war damals kaum Streitgegenstand rechtlicher Erörterungen des Bürgerbegriffs. Man unterschied lediglich in Alt- und Neubürger oder in Eingesessene und Zugereiste. Von Bedeutung war die Unterscheidung in luftkriegsgeschädigte Altbürger, in Vertriebene sowie in Flüchtlinge aus der Sowjetisch besetzten Zone (SBZ) beziehungsweise der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) vor allem im Hinblick auf ihre Berechtigung zum Lastenausgleich, die Gewährung von Fördermitteln für Existenzaufbau und Haushaltsgründung. Die Frage der Staatsbürgerschaft stellte sich erst nach der Gründung der Bundesrepublik und der DDR durch die unterschiedliche Ausgestaltung der Staatsbürgerrechte nach dem Grundgesetz und den Verfassungen der DDR.

Erst durch den massenweisen Zuzug von Gastarbeitern mit Familiennachzug und insbesondere die Zuwanderung von Millionen ausländischer Personen aller Ethnien in das gelobte Wirtschaftswunderland Westdeutschland rückte die Frage nach der Rechtsstellung der Zugewanderten, speziell der Asylbewerber, in den Fokus rechtlicher und soziologischer Auseinandersetzungen, insbesondere in den Bereichen Verfassungsrecht, Gesellschaftswissenschaften und Medien. Es entstand eine unübersehbare Literatur, die sich weniger mit Bürgerrechten oder Bürgerpflichten befaßte als vielmehr mit der Analyse und Beschreibung des vom Volk zur Gesellschaft mutierten Sozialgebildes. Der Bürger tauchte als Begriff hauptsächlich nur noch als Verwaltungsobjekt auf: als Staatsbürger, Bundesbürger, Wahlbürger, mündiger Bürger und gelegentlich als Ehrenbürger. Die Medien befaßten sich eher mit "Kleinbürgern, Großbürgern, Wohlstandsbürgern, Spießbürgern und Weltbürgern."

Der frühere Bundespräsident Johannes Rau pflegte in seinen Reden gern von "Mitbürgern" zu reden, wenn er in Verkennung des Staatsbürgerrechts Zuwanderer meinte, eine damit höchstinstanzlich geprägte politisch-korrekte Bezeichnung, die sich inzwischen bei deutschen Gutmenschen "eingebürgert" hat. Kann man daher vom Normalbürger eine genaue Deutung seines Rechts- und Gesellschaftsstatus verlangen? Kann man von einem mündigen Bürger sprechen, der laut Grundgesetz an der politischen Willensbildung mitwirken soll? Bürgerrechte bedingen notwendigerweise auch Bürgerpflichten. Das muß auch für Zugewanderte, die Bürger dieses Staates werden wollen, gelten. Es ist bezeichnend, daß der deutsche Gesetzgeber die Einbürgerung nicht ausdrück-lich an konkrete Pflichten knüpft, sondern vom Bewerber lediglich die Abgabe einer Erklärung verlangt, daß er das Grundgesetz und die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland achten wird. Diese Erklärung schließt kein patriotisches Bekenntnis ein. Ein solches zu verlangen, wäre auch illusorisch, da auch von deutschstämmigen Staatsbürgern allenfalls "Verfassungspatriotis-mus" erwartet wird. Der Identitätsverlust vieler Deutscher hat somit zur Umdeutung des Begriffes "Volk" in "Bevölkerung" und von "Bewohner" oder "Einwohner" in "Bürger" geführt, eine logische Folge, wenn Rechtsbegriffe als "Formalkram" bezeichnet werden. Wertmesser sind nunmehr vorwiegend materielle Merkmale. An die Stelle des Bürgertums ist der an Besitz, Umsatz und Einkommen gemessene "Mittelstand" getreten. Das Beiwort "bürgerlich" in bezug auf Tradition, Konvention, Standesbewußtsein, Familienleben, Tugenden, Umgangsformen, Wohnverhältnisse, Kleidung, Bildung und Kultur wird eher abwertend als anerkennend verwendet.

Die geschichtliche Entwicklung des Bürgertums zeigt, daß der Begriff "Bürger" - sieht man von seiner Zweiteilung in Stadtbürger und Staatsbürger ab - seine Wesensmerkmale beibehalten hat. Tiefgreifend verändert haben sich jedoch Wertorientierung und Rangordnung des Bürgertums innerhalb der modernen Gesellschaft. Die heile Welt des Bürgertums, wenn auch oft idealisiert, hat sich, bedingt durch Krieg und Kriegsfolgen und die Einflüsse der Migration, bis in ihre Grundfesten verändert. Die materiellen Schäden waren relativ schnell behoben. Den Verfall der bürgerlichen Werte wollen viele nicht zur Kenntnis nehmen.

Wohlstandsstreben, Gleichgültigkeit gegenüber den Belangen und Interessen des eigenen Volkes und Staates kennzeichnen die Einstellung und das Verhalten vieler Bürger. Egoismus statt Gemeinwohl, Gesellschaft statt Volk sind die Symptome. In der Konsum- und Spaßgesellschaft lebt man gegenwartsbezogen statt in Generationen zu denken. Die Langfristfolgen werden nicht ernstgenommen bzw. von Politik und bestimmten Medien bewußt kaschiert.

Die Erfahrungen der letzten drei Jahrzehnte haben jedoch gezeigt, daß ein über Jahrhunderte gewachsenes Staatswesen und -gefüge, geprägt durch die Gemeinsamkeit des Schicksals, der Geschichte, Kultur und Zivilisation und daraus entstandener Gemeinschaft, nicht folgenlos Millionen von Menschen unterschiedlicher Ethnien und Kulturen in den gewachsenen Organismus aufnehmen kann. Es ist ein verhängnisvoller Trugschluß der auf die Menschenrechte pochenden Gutmenschen und der Protagonisten der Völkervermischung, die durch die unbeschränkte Gewährung von Aufenthaltsrecht und Einbürgerung sowie Duldung doppelter Staatsangehörigkeit entstehenden Konfliktherde in Form von Parallelgesellschaften, Randgruppen und Ghettobildung nicht wahrhaben oder beschönigen zu wollen und statt dessen von kultureller Bereicherung sprechen, wo es sich in Wirklichkeit um Multikulti-Folklore auf Stadtteilfesten oder um andere exotische Angebote handelt. Weder Verniedlichung noch Verharmlosung können die Überfremdungsangst des einheimischen Bürgers und damit seine Abwehrhaltung gegenüber nicht integrationsfähigen oder -willigen Zuwanderern verhindern, sondern eher noch verstärken. Wer deshalb den Begriff "deutsche Leitkultur" für unzumutbar hält, bringt damit seine eigene beliebige Identität zum Ausdruck. Als Individuum bleibt ihm das unbenommen, als Volksvertreter ist er gemäß Grundgesetz dem Wohl des deutschen Volkes und damit auch der Erhaltung dessen Identität verpflichtet. Im übrigen: Auch im täglichen Leben hat der Gast die Regeln des Gastgebers zu beachten. Die Marschrichtung der Wertewandler ist erkennbar. Das für den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft früher maßgebende Abstammungsprinzip ist zugunsten des Territorialprinzips aufgegeben worden. Die Einräumung des Wahlrechts für Nicht-Staatsangehörige auf Kommunalebene und Erweiterung von politischen Partizipationsmöglichkeiten durch Einrichtung von Ausschüssen und Beiräten, teilweise mit Stimmrecht, sind nur weitere Schritte zur politischen Bevormundung und zur Entmachtung der Stammbürger. Gleichgerichtete Bestrebungen richten sich auf die Beeinflussung des Kultur- und Geisteslebens, die darauf abzielen, mißbeliebige Primärtugenden des Bürgertums zu beseitigen und durch formlose und unverbindliche Regeln einer "Wie-es-beliebt-Gesellschaft", auch mit dem Begriff " Zivilgesellschaft" umschrieben, zu ersetzen.

Tiefe und bleibende Einbrüche in die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft zeichnen sich deutlich ab. Zwar wird das wohlhabende Bürgertum durch steuer- und sozialpolitische Maßnahmen seit geraumer Zeit in seiner materiellen Basis und damit in seiner Selbständigkeit und Unabhängigkeit geschwächt, doch schwerwiegender ist die Bedrohung seiner geistigen und ethischen Grundlagen. Bedroht ist insbesondere jenes Bürgertum, das trotz seiner Vielschichtigkeit traditionelle, sein Wesen bestimmende Grundsätze, Normen und Formen zur Richtschnur seines Verhaltens und seines Handelns macht, und zwar auch in Zeiten der Not. Wird sich dieses Bürgertum den Kräften seiner Auflösung wirksam entgegenstellen? Werden engagierte "Aktivbürger" die Egalisierung, Nivellierung und schließlich Proletarisierung des deutschen Bürgertums verhindern können?

Kaum ein Begriff des alltäglichen Sprachgebrauchs wird derart unpräzise und gedankenlos verwendet wie der des Bürgers.

Gemeinhin wird darunter schlicht jeder Einwohner oder Bewohner einer Gemeinde mit registriertem oder wie man sagt, "festem" Wohnsitz verstanden. Bekanntlich leitet sich das Wort "Bürger" von "Burgbewohner" ab, der geschützt innerhalb der Burgmauern wohnte, während sich das andere "Volk" außerhalb der Mauern niederlassen mußte. Die Differenzierung blieb auch nach Urbanisierung des Landes bestehen. Bürger einer freien Reichsstadt zu werden, war an ganz bestimmte Voraussetzungen geknüpft, wie Haus- und Grundbesitz, Ausübung bestimmter Berufe, die Fähigkeit, seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können, die Entrichtung einer Bürgersteuer. Die Hürden waren von Stadt zu Stadt unterschiedlich hoch und viele Anwärter mußten eine lange Bewährungszeit in Kauf nehmen, bis sie den begehrten Bürgerbrief ausgehändigt bekamen. Man war stolz, dem Bürgerstand anzuge-hören.

Waren es über Jahrhunderte hinweg mehr oder weniger materielle und standesmäßige Merkmale, die das mittelalterliche Bürgertum kennzeichneten, so brachte die Französische Revolution von 1789 einen tiefgreifenden Einschnitt mit sich. Die Devise "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" stand zum bislang festgefügten gesellschaftlichen Ordnungssystem in krassem Widerspruch. Ideologische, politische und staatsrechtliche Postulate bestimmten von nun an den gesellschaftlichen Status. In der "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" im Jahr 1789 und in der französischen Verfassung von 1791 fanden die Ideen für die Schaffung einer egalitären Bürgergesellschaft ihren deutlichen Niederschlag. Fortan war statt vom "bourgeois", dem Erwerbs- und Besitzbürger, vom "citoyen", dem neu geschaffenen Staatsbürger, die Rede, zu dessen Leitbild die Ziele der Revolution "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" erhoben wurden. Der wohlhabende bourgeois wurde ob seiner auf Eigennutz und Erhaltung seines Besitzstandes gerichteten Einstellung sowie seiner passiven Haltung gegenüber der Allgemeinheit meist als bloßer "Nutznießer" betrachtet. Zwei wesentliche Faktoren der Französischen Revolution brachten neue, umwälzende Änderungen für das konservative Bürgertum: die begriffliche und rechtliche Entwicklung des Stadt- oder Ortsbürgers zum Nationalbürger bzw. Staatsbürger (der selbstverständlich Franzose sein mußte) und die in der "Declaration des droits de l'homme et du citoyen" vom 26. August 1789 niedergelegten Menschenrechte, die dann in der Verfassung von 1791 noch wesentlich erweitert wurden. Die Verknüpfung von Bürgerrechten und Menschenrechten hat bei der Konzeption der in Europa neu entstehenden Nationalstaaten zu kontroversen Diskussionen geführt. Denn Menschenrechte stehen ihrem Wesen nach jedem Menschen zu, während der Staat seinen Bürgern auch Pflichten auferlegt. Kein Staat ist auf Dauer existenzfähig, der seinen Angehörigen nur Rechte gewährt und Nicht-Staatsbürger von jeglichen Pflichten freistellt. Damit würde er sich nicht nur seiner materiellen Grundlagen berauben, sondern auch gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen. - Die "Errungenschaften" der Französischen Revolution haben sich im deutschen Bürgertum, mit Ausnahme der französisch orientierten Rheinprovinzen, nicht durchgesetzt. Das städtische Bürgerrecht war bis ins späte 19. Jahrhundert hinein an Grundbesitz und Berufe geknüpft. Auch nach den preußischen Reformen bestanden vielfach Privilegien, Ausnahmeregelungen und Rangunterschiede, die im Zunft- und Standeswesen wurzelten. Durch die Aufklärung und den politischen Liberalismus setzte sich aber zunehmend die Erkenntnis vom immateriellen Wert der Bildung durch. Damit wurde der Erwerb der Bürgerrechte für die gebildeten, aber besitzlosen Schichten ermöglicht. Aufstiegschancen bot hier der Staatsdienst, speziell Verwaltung, Justiz, Militär und wissenschaftliche Einrichtungen, wie Universitäten, Akademien und andere wissenschaftliche Institute. Im Zuge der Industrialisierung entstand dann die neue Schicht der Wirtschaftsbürger, während die rasch wachsende Schicht der lohnabhängig Beschäftigten dem Stand der Einwohner, auch vierter Stand genannt, zugeordnet wurde. Ihre Mitbestimmungsmöglichkeit in öffentlichen Angelegenheiten war durch das Zensuswahlrecht stark eingeschränkt beziehungsweise ausgeschlossen. Bekannt ist das in Preußen 1849/50 eingeführte Dreiklassen-Wahlrecht, das erst in der Novemberrevolution von 1918 abgeschafft wurde. In seiner Verfassung vom 16. April 1871 hat das Deutsche Reich auf die Aufnahme von Grund- und Bürgerrechten verzichtet, übrigens ebenso die französische Verfassung von 1875. Der aus zahlreichen Kleinstaaten entstandene deutsche Nationalstaat machte es unumgänglich, die Staatsbürgerschaft an andere Voraussetzungen zu knüpfen als die Stadt- und Ortsbürgerschaft. Bedingt durch neue, umfangreiche Aufgaben wie neuer, nationaler Institutionen und Körperschaften, eines stehenden Heeres sowie einheitlicher Reichsgesetze, sah sich der Nationalstaat gezwungen, seinen Schutzbefohlenen gleiche Rechte einzuräumen und ihnen aber zugleich als Gegenleistung neue oder größere Pflichten aufzuerlegen. Hier sei besonders die allgemeine Steuerpflicht und die allgemeine Wehrpflicht genannt. Das Gros der Bürger konnte auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis nach dem Ersten Weltkrieg keinen nennenswerten Einfluß auf politische Entscheidungen nehmen. Dennoch spielte das deutsche Bürgertum in Wirtschaft, Wissenschaft, Rechtswesen und Kultur eine herausragende Rolle.

Mit anderen Worten: Es bildete die staatstragende Schicht. Sein Lebensstil galt sowohl als prägend als auch als erstrebenswert. Kurzum: Das Bürgertum setzte Maßstäbe. Sind diese Maßstäbe in der Gesellschaft von heute noch gültig oder was hat sich verändert?

Noch nie in der neueren Zeitgeschichte Deutschlands hat sich ein derart starker wirtschaftlicher, mentaler und gesellschaftlicher Umbruch vollzogen wie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Hatte das Bürgertum schon durch die Folgen des Ersten Weltkriegs - Weltwirtschaftskrise, Inflation und politische Umwälzungen Ein-bußen erlitten, so brachte der totale politische, wirtschaftliche und staatliche Zusammenbruch ab 1945 eine bislang nicht gekannte Zerstörung des Staatsgefüges und der herkömmlichen bürgerlichen Ordnung mit sich. Nachdem der Bombenkrieg schon nahezu alle Städte zerstört hatte, strömten nun 15 Millionen Menschen aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches und Volksdeutsche aus den deutschen Siedlungsgebieten in Ost- und Südosteuropa in das weitgehend verwüstete und in vier Besatzungszonen aufgeteilte Restdeutschland. Ob es sich um geflohene oder vertriebene Reichsbürger oder um ausgewiesene Volksdeutsche handelte, war damals kaum Streitgegenstand rechtlicher Erörterungen des Bürgerbegriffs. Man unterschied lediglich in Alt- und Neubürger oder in Eingesessene und Zugereiste. Von Bedeutung war die Unterscheidung in luftkriegsgeschädigte Altbürger, in Vertriebene sowie in Flüchtlinge aus der Sowjetisch besetzten Zone (SBZ) beziehungsweise der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) vor allem im Hinblick auf ihre Berechtigung zum Lastenausgleich, die Gewährung von Fördermitteln für Existenzaufbau und Haushaltsgründung. Die Frage der Staatsbürgerschaft stellte sich erst nach der Gründung der Bundesrepublik und der DDR durch die unterschiedliche Ausgestaltung der Staatsbürgerrechte nach dem Grundgesetz und den Verfassungen der DDR.

Erst durch den massenweisen Zuzug von Gastarbeitern mit Familiennachzug und insbesondere die Zuwanderung von Millionen ausländischer Personen aller Ethnien in das gelobte Wirtschaftswunderland Westdeutschland rückte die Frage nach der Rechtsstellung der Zugewanderten, speziell der Asylbewerber, in den Fokus rechtlicher und soziologischer Auseinandersetzungen, insbesondere in den Bereichen Verfassungsrecht, Gesellschaftswissenschaften und Medien. Es entstand eine unübersehbare Literatur, die sich weniger mit Bürgerrechten oder Bürgerpflichten befaßte als vielmehr mit der Analyse und Beschreibung des vom Volk zur Gesellschaft mutierten Sozialgebildes. Der Bürger tauchte als Begriff hauptsächlich nur noch als Verwaltungsobjekt auf: als Staatsbürger, Bundesbürger, Wahlbürger, mündiger Bürger und gelegentlich als Ehrenbürger. Die Medien befaßten sich eher mit "Kleinbürgern, Großbürgern, Wohlstandsbürgern, Spießbürgern und Weltbürgern."

Der frühere Bundespräsident Johannes Rau pflegte in seinen Reden gern von "Mitbürgern" zu reden, wenn er in Verkennung des Staatsbürgerrechts Zuwanderer meinte, eine damit höchstinstanzlich geprägte politisch-korrekte Bezeichnung, die sich inzwischen bei deutschen Gutmenschen "eingebürgert" hat. Kann man daher vom Normalbürger eine genaue Deutung seines Rechts- und Gesellschaftsstatus verlangen? Kann man von einem mündigen Bürger sprechen, der laut Grundgesetz an der politischen Willensbildung mitwirken soll? Bürgerrechte bedingen notwendigerweise auch Bürgerpflichten. Das muß auch für Zugewanderte, die Bürger dieses Staates werden wollen, gelten. Es ist bezeichnend, daß der deutsche Gesetzgeber die Einbürgerung nicht ausdrück-lich an konkrete Pflichten knüpft, sondern vom Bewerber lediglich die Abgabe einer Erklärung verlangt, daß er das Grundgesetz und die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland achten wird. Diese Erklärung schließt kein patriotisches Bekenntnis ein. Ein solches zu verlangen, wäre auch illusorisch, da auch von deutschstämmigen Staatsbürgern allenfalls "Verfassungspatriotis-mus" erwartet wird. Der Identitätsverlust vieler Deutscher hat somit zur Umdeutung des Begriffes "Volk" in "Bevölkerung" und von "Bewohner" oder "Einwohner" in "Bürger" geführt, eine logische Folge, wenn Rechtsbegriffe als "Formalkram" bezeichnet werden. Wertmesser sind nunmehr vorwiegend materielle Merkmale. An die Stelle des Bürgertums ist der an Besitz, Umsatz und Einkommen gemessene "Mittelstand" getreten. Das Beiwort "bürgerlich" in bezug auf Tradition, Konvention, Standesbewußtsein, Familienleben, Tugenden, Umgangsformen, Wohnverhältnisse, Kleidung, Bildung und Kultur wird eher abwertend als anerkennend verwendet.

Die geschichtliche Entwicklung des Bürgertums zeigt, daß der Begriff "Bürger" - sieht man von seiner Zweiteilung in Stadtbürger und Staatsbürger ab - seine Wesensmerkmale beibehalten hat. Tiefgreifend verändert haben sich jedoch Wertorientierung und Rangordnung des Bürgertums innerhalb der modernen Gesellschaft. Die heile Welt des Bürgertums, wenn auch oft idealisiert, hat sich, bedingt durch Krieg und Kriegsfolgen und die Einflüsse der Migration, bis in ihre Grundfesten verändert. Die materiellen Schäden waren relativ schnell behoben. Den Verfall der bürgerlichen Werte wollen viele nicht zur Kenntnis nehmen.

Wohlstandsstreben, Gleichgültigkeit gegenüber den Belangen und Interessen des eigenen Volkes und Staates kennzeichnen die Einstellung und das Verhalten vieler Bürger. Egoismus statt Gemeinwohl, Gesellschaft statt Volk sind die Symptome. In der Konsum- und Spaßgesellschaft lebt man gegenwartsbezogen statt in Generationen zu denken. Die Langfristfolgen werden nicht ernstgenommen bzw. von Politik und bestimmten Medien bewußt kaschiert.

Die Erfahrungen der letzten drei Jahrzehnte haben jedoch gezeigt, daß ein über Jahrhunderte gewachsenes Staatswesen und -gefüge, geprägt durch die Gemeinsamkeit des Schicksals, der Geschichte, Kultur und Zivilisation und daraus entstandener Gemeinschaft, nicht folgenlos Millionen von Menschen unterschiedlicher Ethnien und Kulturen in den gewachsenen Organismus aufnehmen kann. Es ist ein verhängnisvoller Trugschluß der auf die Menschenrechte pochenden Gutmenschen und der Protagonisten der Völkervermischung, die durch die unbeschränkte Gewährung von Aufenthaltsrecht und Einbürgerung sowie Duldung doppelter Staatsangehörigkeit entstehenden Konfliktherde in Form von Parallelgesellschaften, Randgruppen und Ghettobildung nicht wahrhaben oder beschönigen zu wollen und statt dessen von kultureller Bereicherung sprechen, wo es sich in Wirklichkeit um Multikulti-Folklore auf Stadtteilfesten oder um andere exotische Angebote handelt. Weder Verniedlichung noch Verharmlosung können die Überfremdungsangst des einheimischen Bürgers und damit seine Abwehrhaltung gegenüber nicht integrationsfähigen oder -willigen Zuwanderern verhindern, sondern eher noch verstärken. Wer deshalb den Begriff "deutsche Leitkultur" für unzumutbar hält, bringt damit seine eigene beliebige Identität zum Ausdruck. Als Individuum bleibt ihm das unbenommen, als Volksvertreter ist er gemäß Grundgesetz dem Wohl des deutschen Volkes und damit auch der Erhaltung dessen Identität verpflichtet. Im übrigen: Auch im täglichen Leben hat der Gast die Regeln des Gastgebers zu beachten. Die Marschrichtung der Wertewandler ist erkennbar. Das für den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft früher maßgebende Abstammungsprinzip ist zugunsten des Territorialprinzips aufgegeben worden. Die Einräumung des Wahlrechts für Nicht-Staatsangehörige auf Kommunalebene und Erweiterung von politischen Partizipationsmöglichkeiten durch Einrichtung von Ausschüssen und Beiräten, teilweise mit Stimmrecht, sind nur weitere Schritte zur politischen Bevormundung und zur Entmachtung der Stammbürger. Gleichgerichtete Bestrebungen richten sich auf die Beeinflussung des Kultur- und Geisteslebens, die darauf abzielen, mißbeliebige Primärtugenden des Bürgertums zu beseitigen und durch formlose und unverbindliche Regeln einer "Wie-es-beliebt-Gesellschaft", auch mit dem Begriff " Zivilgesellschaft" umschrieben, zu ersetzen.

Tiefe und bleibende Einbrüche in die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft zeichnen sich deutlich ab. Zwar wird das wohlhabende Bürgertum durch steuer- und sozialpolitische Maßnahmen seit geraumer Zeit in seiner materiellen Basis und damit in seiner Selbständigkeit und Unabhängigkeit geschwächt, doch schwerwiegender ist die Bedrohung seiner geistigen und ethischen Grundlagen. Bedroht ist insbesondere jenes Bürgertum, das trotz seiner Vielschichtigkeit traditionelle, sein Wesen bestimmende Grundsätze, Normen und Formen zur Richtschnur seines Verhaltens und seines Handelns macht, und zwar auch in Zeiten der Not. Wird sich dieses Bürgertum den Kräften seiner Auflösung wirksam entgegenstellen? Werden engagierte "Aktivbürger" die Egalisierung, Nivellierung und schließlich Proletarisierung des deutschen Bürgertums verhindern können?

Noch nie hat sich in Deutschland ein derart starker Umbruch Vollzogen

Rechte bedingen auch Pflichten

Hinrichtung Marie Antoinettes: In der Französischen Revolution erhielt der Begriff Bürger eine ganz neue Bedeutung. Dieser prägte ganz Europa. Foto: BpK


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren