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20.05.06 / Königsberg - Verzeih'! / Die Pregelmetropole ist schöner als ihr Ruf

© Preußische Allgemeine Zeitung / 20. Mai 2006

Königsberg - Verzeih'!
Die Pregelmetropole ist schöner als ihr Ruf
von Harald Breede

Vergeblich suche ich Dich auf einer Karte, die der Reiseveranstalter zur Verdeutlichung seiner Reiseroute, einer Ostsee-Kreuzfahrt, mitgeliefert hat. Bekannte Namen sind dort zu finden, wie Stockholm, Tallinn oder St. Petersburg; aber an Dir fährt man einfach vorbei; von Lübeck oder Kiel ausgehend, wird erst Danzig angelaufen, dann schon Memel, man läßt Dich aus, "links" beziehungsweise rechts liegen, um von Memel dann weiter nach Riga und Tallinn zu fahren.

Aber verzeih', Königsberg, Du bist die häßlichste Stadt der Welt, da will man nicht mehr hinfahren, wie es vor einiger Zeit jemand in einem Interview gesagt hat. Du bist grau, Königsberg, gesichtslos, große, ungepflegte Plätze und verfallene Häuser bestimmen Dein Stadtbild, Plattenbauten, wohin man blickt, stinkende, Schadstoff ausstoßende Autos quälen sich über Schlagloch besetzte Straßen! Verzeih', Königsberg, aber Dein Kneiphof, der früher dicht bebaut war mit prächtigen Häusern verschiedenster Stilepochen, ist nur noch ein ungepflegter Park. Verzeih', Königsberg, aber überall sieht man noch Hammer und Sichel, überall beherrschen wuchtige Denkmale aus kommunistischer Zeit die Plätze, verrostete Schnellboote erinnern an die Schlachten des Großen Vaterländischen Krieges. Verzeih', Königsberg, aber Du wirst als fremder Planet gesehen, und junge Menschen, die in Deinen Mauern jetzt wohnen, sagen, Dich gäbe es erst seit 1945; junge Menschen, die Dich besucht haben, sprechen, nachdem sie Deiner ansichtig wurden, von einem erlittenen Kulturschock! Verzeih', Königsberg, aber sogenannte Heimweh-Touristen haben Dich nicht wiedererkannt, Du hättest kein Zentrum mehr, die alten Straßen seien nicht zu erkennen; sie seien hilflos herumgegangen; sie machen Dir zum Vorwurf, daß ihre Häuser, wenn sie sie dann gefunden hätten, völlig verändert seien, daß, um es extrem auszudrücken, ihre Gardinen nicht mehr an den Fenstern hingen. Sie wollen nicht mehr wiederkommen, sie sagen, Du seiest eine russische Stadt und man könne dann auch nach Omsk oder Irkutsk reisen.

Tut es Dir weh, Königsberg, wenn ich das alles so sage, so ausspreche, Dir ins Gesicht sage, was andere über Dich reden, erzählen, weitererzählen? Willst Du Dich nicht wehren, alles geraderücken, gerade jetzt, wo Du letztes Jahr 750 Jahre alt geworden bist? Jedenfalls kann ich das alles nicht so stehenlassen, ich muß Dich all dieser Aussagen wegen um Verzeihung bitten - Königsberg, verzeih'!

Wird vergessen, daß Du erst 1991 aus dem Dunkel der Geschichte, in das Du 1945 versunken warst, wieder aufgetaucht, man könnte sagen, ins Leben zurückgekehrt bist, bejubelt vor allem von den Ostpreußen, die alle Dich besuchen wollten, die glücklich waren, in ihre Geburtsstadt, in ihre ehemalige Landeshauptstadt reisen zu können? Und dann das vernichtende Urteil: einmal und nie wieder!

Königsberg, verzeih' ihnen, sie haben vergessen, verdrängt, was man Dir seit 1944 angetan hat, als zunächst im August jenes Jahres englische Bomber Dein Zentrum, Dein Gesicht, zerstört haben, dann im April 1945 russische Truppen Dich zerstörend eingenommen haben und Stalin beschloß, aus Dir eine russische Stadt zu machen, Dich hermetisch vom Rest der Welt abriegelte, zum Sperrgebiet erklärte und Breschnjew später den Befehl gab, alles Deutsche in Dir auszumerzen. Muß man sich da noch wundern, daß es nicht mehr so ist wie früher, daß Du Narben im Gesicht davongetragen hast, Narben der Geschichte, die eitern, die weh tun, Dir selbst und natürlich Deinen Besuchern? Aber wer will, wer sehen kann, erkennt Dich trotz dieser Narben, trotz Deines entstellten Gesichtes, sieht hinter diesen Narben ein Blinzeln vom wiederaufgebauten Dom, der Börse, von der Kirche "Zur Heiligen Familie", erahnt ein leises Lächeln von den Stadttoren her, einen warmen, vielleicht etwas wehmütigen Blick von der in ein Puppentheater umgewandelten Luisen-Kirche, sieht plötzlich Deine blauen Augen von Schloß- und Oberteich, und die Narben in Deinem Gesicht werden durch dieses Blau der Teiche und der Pregelarme, das Grün der Parkanlage auf dem Kneiphof oder das Backsteinrot des Domes gemildert, so daß sie kaum noch sichtbar sind.

Königsberg, verzeih' ihnen, die da schreiben, sie hätten einen jungen Russen gesprochen, der behauptet habe, Deine Geschichte beginne erst 1946! Ja, es stimmt, man hat Dich umbenannt, Dir einen neuen Namen gegeben nach dem Kampfgefährten Stalins: Kaliningrad. Man hat den seit 1946 eintreffenden, besser zwangsumgesiedelten russischen Neusiedlern aus den Weiten Sibiriens Deine Geschichte verheimlicht, nachfragen auf Grund Deiner damaligen Ruinenhaftigkeit war verboten, Du hattest russischen Ursprungs zu sein. Aber die Zeiten haben sich geändert nach Glasnost und Perestroika, die Menschen, denen Du heute Heimstatt bist, dürfen wieder denken, dürfen sich Gedanken machen, dürfen nachfragen. Und sie haben es getan, besonders die jungen Menschen, Schüler und Studenten - Du weißt es genau - sie haben Fragen gestellt und haben Deine deutsche Vergangenheit entdeckt, sie haben Dich aus Deinem Dornröschenschlaf geküßt, sie sind stolz auf Dich, auf Deine deutsche Geschichte, sie möchten Dir Deinen alten Namen wiedergeben! Man fragt sich, wen die Journalistinnen nur gesprochen haben!

Königsberg, verzeih' ihnen, sie sind sehr jung, die Dich da besucht haben, sie sind so jung, daß sie selbst noch keine Geschichte haben, sie sind so naiv, daß sie in althergebrachte Klischees verfallen, zum Beispiel von schlaglochübersäten Straßen! Das war einmal, aber diese Volontärinnen haben Dich 2004 besucht! Wo sind sie nur gegangen? Auch ich bin in jedem Jahr durch Deine Straßen gewandert, gestromert, habe gute und schlechte Straßen gesehen, habe gesehen, wie Straßen neue Asphaltierungen erhielten, Kreuzungen neu gestaltet wurden, habe Straßen gesehen, wo sich Schlagloch an Schlagloch reiht, natürlich, aber wie ist es in unseren Städten, warum bilden sich Bürgerinitiativen, die die Schlaglöcher in ihren Straßen nicht mehr hinnehmen wollen?

Königsberg, verzeih' ihnen, denn auch die "stinkenden, Schadstoff speienden Autos" sind ein typisches Klischee, sie müssen es in ihrer dürftigen Reisevorbereitung irgendwo gelesen haben, um es dann vor Ort zu suchen; übersehen haben sie in ihrer Suche, daß Deine Straßen beherrscht werden von Mercedes, BMW, VW sowie japanischen Markenwagen. Oder meinen sie vielleicht die vielen Busse, die in Minutentakten die Menschen von A nach B bringen? Sie vergessen dabei, daß ein Teil davon ausrangierte Busse aus der Bundesrepublik Deutschland sind, die dort den Bestimmungen nicht mehr entsprachen! - Ja, sie waren nur dürftig vorbereitet, kannten nicht einmal Deine jetzige Sprache, glaubten mit ihrer Sprache alles regeln zu können und beschweren sich, daß dies nicht klappte, nicht klappen konnte. Aber wer Sprache nur als deutsche und russische Vokabeln definiert, kommt nicht weit; es gehört mehr dazu, nämlich ein Lächeln, eine kleine Geste, vor allem aber das Herz muß sprechen. Dann wird man auch heute in Deinen Mauern aufgenommen, aufgehoben sein, dann verstehen Dich die Menschen, öffnen sich und helfen Dir weiter - Königsberg, verzeih'! Warum, Königsberg, suchen Menschen, wenn sie Dich besuchen, immer nur nach Kanaldeckeln mit deutscher Aufschrift, um dann glücklich zu sein, wenn sie fündig geworden sind, weil sie ja auf Spurensuche sind; sie kommen meistens mit dem Zug von Berlin und in ihrem späteren Reisebericht kommen sie dann am Nordbahnhof an! Merkst Du etwas, Königsberg, sie wissen nicht einmal, wo sie ankommen! Man kam und kommt von eh und je von Berlin kommend auf dem Hauptbahnhof, heute Südbahnhof, an; vom Nordbahnhof ging und geht es nach Cranz und Rauschen. Und wenn sie sich dann auf den Weg in Deine Innenstadt machen, glauben sie alles Negative aufzählen zu müssen, sehen Bettlerinnen, Trinker, mokieren sich über die unsensibel angebrachte Kanttafel, dort wo ehemals der Westturm des Schlosses stand, erzählen etwas über die Wuchtigkeit des Kalinin-Denkmals, und so geht es weiter in diesen Reiseberichten. Aber auch die Fernsehberichte sind nicht viel anders, in den meisten Fällen. Die Kameras schwenken über die Plattenbauten der 60er Jahre, zeigen das Königstor mit den abgeschossenen Köpfen von Ottokar von Böhmen, Friedrich I. und Albrecht von Brandenburg, verweilen auf dem "Haus der Räte", einer nie vollendeten Beton-Ruine, mit dem Kommentar, hier habe einmal das Schloß gestanden, lassen Lenin auf dem ehemaligen Hansaplatz in Großaufnahme im Objektiv stehen, dann fokussiert in allen Einzelheiten, um dann noch schnell einige Hinterhöfe mit überquellenden Mülleimern und darin rumwühlenden Bettlern zu zeigen - Königsberg, verzeih'! Sie wissen nicht oder wollen es nicht wissen, daß Du ganz anders bist, daß die Kanaldeckel vor dem Hauptbahnhof nicht wichtig sind, sondern daß es wesentlicher ist, die gelungene Renovierung und Umgestaltung der Bahnhofshalle zu zeigen, daß es müßig ist, nach 15 Jahren seit Deiner Öffnung immer noch und immer wieder das Lenin- und Kalinin-Denkmal zum Thema zu machen.

Königsberg, verzeih', sie sind blind für die Wisente von August Gaul vor dem ehemaligen Amts- und Landgericht, sie schließen die Augen vor dem Schiller-Denkmal von Stanislaus Cauer in der Parkanlage vor dem Dramentheater, sie fahren vorbei an der von Cauer geschaffenen Marmorfigur "Nach dem Bade" neben der Luisen-Kirche und schon gar nicht bemerken sie die Cauersche Herkules-Figur aus Muschelkalk, immer noch an der Stelle, an der sich früher ein begehbares Schleusenhaus befand, um das Wasser des Ratshofer Freigrabens in den Hammerteich zu regulieren.

Sie, die über Dich die Nase rümpfen, vergleichen Deine erhaltenen Stadttore, die, zugegeben, desolat sind, mit der Altstadt von Lübeck. Wie kann man nur, welche historische Naivität zeigt sich hier! Du hast gelitten in der sowjetischen Zeit, als man in Dir alles Deutsche wegsprengte oder zumindest dem Verfall preisgab. Warum ziehen diese Menschen nicht andere Vergleiche, stellen Deine Plattenbauten den Wohnsilos, den Trabantenstädten in Kiel-Altenholz, in Schwerin dem Großen Dreesch oder in Hamburg Mümmelmannsberg gegenüber? Sie tun es nicht, weil sie dann zugeben müßten, daß es bei uns nicht anders aussieht! Warum bewegen sie sich nicht aus Deinem Zentrum heraus, wandern an den renovierten Häusern des Steindamms entlang, sehen sich das vielseitige Angebot in den Wünsche weckenden Schaufensterauslagen an, warum ziehen sie nicht weiter über den Hansaplatz in die Hufenallee, an deren Anfang das Dramentheater steht, unter dessen Säulenarkaden man zur Stärkung eine Tasse Kaffee trinken, ein Eis verzehren oder ein Stück Kuchen zu sich nehmen kann, immer mit Blick über die Straßenkreuzung in eine gepflegte kleine Grünanlage, in deren Mittelpunkt eine Wasserfontänen speiende Brunnenanlage steht und an deren Rand seit 1910 Cauers Friedrich Schiller den Blick in Richtung Theater erwidert; warum nur werfen sie keinen Blick in die Seitenstraßen auf dem Weg zur Luisen-Kirche, in die Luisenallee, Schiller- und Schrötterstraße, warum nicht einmal die Körteallee entlanggehen mit Luisen- und Friedrich-Wilhelm-Platz? Hier, Königsberg, würden sie Dich erkennen in den erhaltenen und restaurierten Villen, teilweise noch mit deutschen Namen, in wunderschönen Garten- und parkähnlichen Anlagen, in Jugendstilhäusern und natürlich an den baumbestandenen, an Alleen erinnernden Straßenzügen - hier hast Du, Königsberg, Deine Schönheit von einst bewahren können; aber keine Fernsehkamera zeigt diese Schönheit vergangener Zeiten, es würde ja dem Klischee von einer grauen, aus Plattenbauten bestehenden Stadt widersprechen! - Königsberg, verzeih'!

Verzeih' ihnen, die sich nicht die Mühe machen, genauer hinzusehen, die nicht sehen, daß trotz der Zerstörungen während des Krieges und dann in sowjetischer Zeit so viele deutsche Gebäude geblieben sind, sie gehen nicht zur ehemaligen Bernsteinmanufaktur in der Sattlergasse, übersehen das ehemalige Reichsbahn-Direktionsgebäude in der Vorstädtischen Langgasse, die mit reichem neobarocken Portal ausgestattete Fortbildungsschule am Korinthendamm, die in der Drumstraße gelegene Medizinische Universitätsklinik, heute Hafenkrankenhaus, oder das im preußischen Gymnasialstil der Jahrhundertwende errichtete Hufengymnasium, an dem Ernst Wiechert einst unterrichtete, sie scheuen den Weg zur erhalten gebliebenen Kunst- und Gewerbeschule in der Straße Ratslinden, einem Bau von Friedrich Lahrs mit Halbreliefs über dem Portal von St. Cauer, zum Löbenichter Hospital in der Heidemannstraße mit einer Geschichte, die zurückreicht in das Jahr 1349; sie würden dann erkennen, daß der jetzige Bau ein Nachfolgebau von 1903 ist, aber wenn sie sich dieser Mühe unterzögen, könnten sie ein Kleinod der Baukunst aus dem 18. Jahrhundert entdecken, nämlich das noch vorhandene Rokoko-Portal des Löbenichter Hospitals aus dem Jahre 1771 - aber sie tun es nicht, sie machen sich die Mühe nicht, Königsberg, Deine deutsche Baugeschichte zu erkunden, nicht die Reiseleiter, nicht die Berichterstatter, nicht die Touristen, nicht die sogenannten Spurensucher - Königsberg, verzeih'! Verzeih' ihnen, die nicht einmal um den Schloßteich gehen, den Ruderregatten oder den Tretbootfahrern zusehen, die noch kein Bier am Kiosk an der Schloßteichspitze getrunken haben, um dann mit russischen Gleichgesinnten ins Gespräch zu kommen, ohne der Sprache mächtig zu sein, die den Innenhof des Dohnaturmes, heute Bernsteinmuseum, nicht kennen, die den von den gepflanzten Rosen ausgehenden Duft und das zarte Blau des ostpreußischen Himmels über dem Backsteinrund des Bollwerks nicht wahrnehmen!

Königsberg, bemühe Dich nicht, ich mußte das alles sagen, es mußte ausgesprochen werden! Ich weiß, es ist eine Liebeserklärung geworden. Ja, Du hast Recht, Liebe macht bekanntlich blind, aber ich stehe nicht allein mit meiner Ansicht, ich nenne Dir nur den Engländer Anthony R., der mit dem Fahrrad von der Themse zu Dir an den Pregel kommen will, weil er von seinen beiden vorangegangenen Besuchen bei Dir so angetan ist; ich nenne den italienischen Studenten Francesco D., der von Moskau aus Dir einen Besuch abstattete, und zwar mit der entgeisterten Frage seiner russischen Kommilitonen im Kopf: "Was willst Du auf dieser Insel?" Er aber lernte Dich schnell kennen und anerkennen. Während seines Spazierganges durch Deine Straßen kehrte er am Steindamm in das "Café Express" ein, war von den Speisen und Getränken entzückt, und als er zum Schluß noch eine Tasse Mokka von echter italienischer Provenienz erhielt, dazu einen phantastischen Apfelkuchen, war sein Glück vollkommen, und schon nach diesem ersten Tag bei Dir widersprach er in Gedanken seinen Freunden in Moskau, denn er fühlte sich schon jetzt wie in einer mitteleuropäischen Stadt aufgehoben.

Und, Königsberg, ich kann noch jemanden anführen, der meine Ansicht teilt, es ist sogar ein Deutscher, ein Königsberger, Dieter Sch. Er habe, so schreibt er, bis zum Jahre 2002 gewartet, dummerweise, um seine Heimat wiederzusehen, denn er glaubte fest, daß Deine jetzt russische Bevölkerung den Deutschen Mißtrauen und Distanz entgegenbrächte. Aber er, der als Schiffssteward in der Welt weit herumgekommen war, mußte nun erkennen, daß man "nirgends auf der Welt weniger Abneigung uns Deutschen gegenüber" entgegenbringt als hier. Vier Wochen Aufenthalt haben ihn zu dem Schluß kommen lassen: "Ich kann jedem Altkönigsberger oder dessen Kindern, die ihre Wurzeln suchen, nur raten: Werft eure Bedenken über Bord, fahrt nach Königsberg!"

Du hast sicherlich bemerkt, Königsberg, daß diese Beispiele von Menschen erzählen, die sich länger oder in jedem Jahr neu in Deinen Mauern aufgehalten haben. Und so meine ich, verzeih' mir Königsberg, daß die Kreuzfahrtschiffe Dich nicht anlaufen sollten, sie sollten Dich doch links beziehungsweise rechts liegen lassen und von Danzig gleich nach Memel durchfahren, denn sie gewähren den Touristen in jedem Hafen nur für wenige Stunden Landgang, lassen sie in Busse einsteigen und mit einer Stadtführerin durch die Stadt schleusen. Aber so lernt man Dich nicht kennen, sie, die Touristen, können nicht durch Geschäfte bummeln, in Antiquitätengeschäften stöbern, gelangen nicht bis zum neuen evangelisch-lutherischen Kirchenzentrum mit der wunderschönen Gartenanlage, haben nicht die Zeit, hier an einem Gottesdienst teilzunehmen oder in der Kreuzkirche einem russisch-orthodoxen Gottesdienst beizuwohnen, man zeigt ihnen nicht die Neubaugebiete in Quednau, wo sich wunderbare Einfamilienhäuser und prunkvolle Villen mit gepflegten Gartenanlagen aneinander reihen, man fährt mit ihnen nicht die Cranzer Allee entlang, um ihnen dort neu entstehende Großwohneinheiten mit baulich aufgelockerten und farblich harmonisch abgesetzten Fassaden zu zeigen, nein, sie kommen mit den Menschen nicht in Kontakt, ins Gespräch, sie lernen nicht die Gastfreundschaft Deiner jetzigen Bevölkerung kennen, sie fahren nach einem Tag ab und sprechen dann, Königsberg verzeih', von einer grauen russischen Stadt, die da heißt Kaliningrad! Und sieh', deshalb laß' die Schiffe von Danzig gleich nach Memel fahren, denn man muß Dich durchwandern, man muß Dich riechen, hören, man muß Dich einatmen, man muß offen sein, bereit sein, der Verkäuferin im Supermarkt ein Lächeln zu schenken, mit dem Taxifahrer über Geschäfte zu reden, die Straßenkinder als Menschen zu sehen, die Kellnerin ins Gespräch zu ziehen, mit den Verkäufern an den Bernsteinständen zu verhandeln, dem Portier zu danken, man muß sich freuen können auf ein Konzert im Dom, auf einen Abend bei russischen Freunden, auf ein Wiedersehen mit Tamara, Eugen oder Diana - ja, Königsberg, dann lernt man Dich kennen, dann weiß man, daß Du Charme hast, einen Charme, dem man sich nicht entziehen kann, der einen nicht los läßt, so daß man wiederkommen muß!

Aus: "Königsberg - Verzeih'!", Eigenverlag, Eutin 2005, 102 Seiten, 13,50 Euro, Bestell-Nr. 5527

Die Stadt ist trotz ihrer Narben wiederzuerkennen

Das Bild ist von Vorurteilen und Klischees geprägt

Auch in Mittel- und Westdeutschland gibt es Bausünden

Man braucht Zeit, um die Attraktivität zu verspüren

Königsbergs alte Börse: Heute wird das im Stil der Florentiner Renaissance errichtete Gebäude anders genutzt, aber eine Augenweide ist es noch immer. Foto: Cora

Hohe Straße (uliza Pobedy): Es gibt nicht nur Straßenlöcher und Ruinen. Foto: pa


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