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27.05.06 / Was äußerlich nicht da ist

© Preußische Allgemeine Zeitung / 27. Mai 2006

Gedanken zur Zeit:
Was äußerlich nicht da ist
von Wilfried Böhm

Vor einhundert Jahren, am 26. Mai 1906 wurde im nordhessischen Kassel der spätere Oberarzt, Pfarrer und bildende Künstler Dr. Kurt Reuber geboren und wuchs in einer von pietistischer Frömmigkeit geprägten Elterhaus auf. Seine Madonna von Stalingrad, von ihm mit Kohle auf der Rückseite einer russischen Landkarte im Kessel der Festung Stalingrad zu Weihnachten 1942 für seine Kameraden gezeichnet, ist ein eindrucksvolles und bewegendes Zeugnis einer der größten Tragödien des Zweiten Weltkrieges.

Wer kann heute ermessen, was damals die drei Johannes-Worte: Licht - Leben - Liebe, die Reuber auf seine ergreifende Zeichnung schrieb, den geschundenen, verzweifelten und hungernden über 300000 Männern in den Trümmern dieser Stadt an der Wolga bedeuten konnten, als sie, von der Roten Armee eingeschlossen, gegen Kälte, Hunger und einen unerbittlichen Feind kämpften? Blieb ihnen Hoffnung und Zuversicht über den Tod hinaus? Blieb ihnen die Hoffnung, nicht dem ewigen Tod zu verfallen, sondern auf ewig mit Christus leben zu dürfen, wie es Christi Himmelfahrt mit seiner Auferstehung von den Toten verheißt? Reuber selbst schrieb dazu: "Licht, Leben, Liebe, diese Worte werden zu einem Symbol einer Sehnsucht nach allem, was äußerlich so wenig da ist."

Ein Freund Kurt Reubers schildert, daß dieser am Heiligabend 1942 in dem von ihm überschaubaren Bereich seine Soldaten in einen Bunker führte, in dem zwei Kerzen brannten; die eine stand auf einem kleinen Tisch, die andere auf einem Holzscheit. An der Bunkerwand hing die große Kohlezeichnung. Reuber habe die Tür geschlossen, die Soldaten standen gedrängt vor dem Bild. "Ein unheimlicher Anblick, das flakkernde Kerzenlicht. Wir standen gebannt, stumm, mit weit offenen Augen". Das Bild habe gespenstige Ruhe ausgestrahlt und - Geborgenheit. "Das Bild ließ uns nicht los. Viele Augen wurden feucht, es gab Tränen ..."

Einige Tage später, kurz vor Neujahr habe Reuber ihm auf dem Feldflugplatz Pitomnik seine "Stalingradmadonna" übergeben, dazu ein Selbstbildnis und weitere Zeichnungen für seine Frau, die in Wichmannshausen bei Eschwege lebte, wo Reuber von 1933 bis 1939 Pfarrer gewesen war, bevor er Medizin studierte und dann zum Heeresdienst als Truppenarzt in einem Panzerregiment einberufen worden war. Das Original der Kohlezeichnung fand 1983 seinen Weg als Dauerleihgabe in die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin, Kopien gelangten in das britische Coventry und in die russisch-orthodoxe Kirche in Wolgograd, wie Stalingrad heute heißt. Eine Ausstellung "Kurt-Reuber - die Madonna von Stalingrad" fand kürzlich vom 7. Februar bis zum 2. Mai 2006 im Evangelischen Zentrum in Berlin-Friedrichshain statt.

Kurt Reuber selbst blieb 1942 bei seinen Kameraden in Stalingrad zurück, kam im Januar 1943 in sowjetische Gefangenschaft und starb dort, 38jährig, am 20. Januar 1944 im Kriegsgefangenenlager Jelabuga im heutigen Tatarstan, wo dann zu Weihnachten 1943 seine zweite Madonna, die "Gefangenen-Madonna", für die Lagerzeitung entstand. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge schrieb einmal: "Licht-Leben-Liebe", diese drei Worte seien Symbol des Lebenswillens gewesen. Mit dieser Hoffnung im Herzen habe der unbeschreibliche Leidensweg einer sterbenden Armee in russische Gefangenschaft begonnen. Nur wenige seien wieder nach Hause gekommen.

Eine enge Freundschaft verband Reuber mit Albert Schweitzer, der 1933 die Patenschaft über Reubers Sohn Erdwin übernahm. Als Reuber damals des "Urwalddoktors" Rat einholte, ob er im Predigtamt bleiben oder Medizin studieren solle, teilt ihm Schweitzer mit: "Wäre es vor dem ersten Weltkrieg, würde ich sagen Medizin, jetzt wo es auch nötig ist, daß Menschen mit feurigem Wollen und weitem Horizont in der Kirche wirken, würde ich eher sagen: In der Kirche bleiben! Ich sehe Sie ganz im christlich-menschlichen Tun aufgehen!"

So schrieb denn auch Reuber:

"Die große Prüfung und Heimsuchung ist über uns herein-gebrochen. Antwort und Sühne wird von uns gefordert, wir werden neue Wege gehen müssen, um die verlorenen und geschändete deutsche Seele wiederzufinden."

Im Gedächtnis der Deutschen und der Russen bleibt Stalingrad als eine der größten Tragödien des 20. Jahrhunderts, verbunden mit der Hoffnung auf ein friedliches Miteinander in Europa. Reuber und seine Kameraden, ihr Opfer, ihr Leid und ihre Hoffnung haben auch um der Zukunft willen, einen festen Platz in der Geschichte der Deutschen.

Zeichen der Hoffnung: Die Madonna von Stalingrad Foto: privat


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