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03.06.06 / Hoffen, daß es nicht eintritt / Berlin übt den Ernstfall eines Attentats seit 20 Jahren - Hilfskräfte funktionieren wie ein Uhrwerk

© Preußische Allgemeine Zeitung / 03. Juni 2006

Hoffen, daß es nicht eintritt
Berlin übt den Ernstfall eines Attentats seit 20 Jahren - Hilfskräfte funktionieren wie ein Uhrwerk
von Markus Schleusener

Guten Tag, mein Name ist Franke, Senats-Gesundheitsverwaltung. Bereiten Sie sich mal vor: Im Berliner Stadtgebiet ist es zu einem Unfall gekommen, bei dem massiv Chlorgas freigesetzt worden ist. Wir rechnen mit vielen Verletzten."

So startete eine Notfallübung in Berlin dieses Frühjahr, bei der ein ABC-Schadensereignis geprobt wurde. ABC steht für "atomar, biologisch, chemisch" und bezieht sich zumeist auf Sprengkörper mit hochgiftiger Füllung. Von der Alarmmeldung an lief alles mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks ab.

Die Frage "Was wäre wenn ...?" beschäftigt die Berliner Politik schon seit 20 Jahren - genauer gesagt: seit dem Anschlag auf die Diskothek "Labelle" 1986. Spätestens seit dem Giftgas-Attentat in der Tokioter U-Bahn 1995 werden entsprechende Übungen in Berlin regelmäßig durchgeführt.

In Tokio waren die Institutionen des Gesundheitssystems - von der Feuerwehr angefangen bis hin zu den Hospitälern - mit der Situation überfordert. Zwölf Personen starben. Nur in einem einzigen Fall war dies wohl unvermeidlich. Elf Menschen sind erst später verstorben, sie hätten nach Expertenmeinung überleben können, wenn sie umgehend richtig behandelt worden wären.

Die richtige Behandlung sofort sicherstellen - das will das Klinikum am Friedrichshain können. Weniger als fünf Minuten, nachdem der Alarm ausgelöst worden ist, haben Klinikum-Mitarbeiter bereits die gelbe Schutzkleidung angezogen. Sie tragen durchsichtige Plastikhelme. Darunter atmen sie gefilterte Luft - aus gewöhnlichem Krankenhauspersonal werden Sanitäter, die aussehen wie Raumpiloten.

Während im Haus die Mitarbeiter von Krankenschwestern und Ärzten luftdicht verpackt werden, ist draußen das normale Personal mit dem Aufbau eines Notzelts beschäftigt. Eine riesige Luftpumpe bläst ein Zelt in so wenigen Sekunden auf, daß jeder Hobby-Camper vor Neid erblassen würde.

Dr. Siegfried Veit ist stolz auf sein weltbekanntes Haus, die Charité. "Es ist logisch, daß diese Übung hier stattfindet", sagt er. In der Unfallklinik könnten normalerweise bis zu 100 Unfallopfer behandelt werden. "Heute testen wir das zum ersten Mal mit der technischen Ausrüstung und der Schutzkleidung", so Veit. Veit ist der örtliche Chef von Vivantes, einer Tochterfirma des Landes Berlin, die unter anderem neun Klinken betreibt.

Kaum eines ist so gut vorbereitet wie das Klinikum am Friedrichshain in der Landsberger Allee. Hier wurden auch die meisten der Opfer des Amoklaufes nach der Eröffnungsfeier für den neuen Hauptbahnhof eingeliefert und behandelt. Es gehört zu den sogenannten "Schwerpunkt-Krankenhäusern". Berlin verfügt über 38 Krankenhäuser, die in drei Kategorien aufgeteilt sind: Erste-Hilfe-, Unfall- und eben Schwerpunkt-Krankenhäuser.

In der ersten Kategorie sind chirurgische, in der zweiten Labor- und Röntgen-Abteilungen vorhanden. Die Schwerpunkt-Kliniken verfügen über das gesamte Spektrum von Fachdisziplinen - bis hin zu Einrichtungen zur Versorgung von Schwer- und Mehrfachgeschädigten.

112mal haben die Hauptstädter in den vergangenen elf Jahren den Ernstfall geprobt. Das Schadensszenario, an dem sich die Berliner Gesundheitsverwaltung offiziell orientiert, ist Tokio. "Viele Opfer gingen einfach in ‚normale' Krankenhäuser", warnt Gesundheitssenatorin Heidi Knake-Werner (Linke/PDS) rückblickend. "Da gab es 5000 bis 6000 Sekundär-Kontaminierte", schließt sich Olaf Franke von der Berliner Gesundheitsverwaltung seiner Chefin an.

Durchgespielt wird immer ein ziviler Unfall, nicht ein terroristischer Anschlag oder ein Amoklauf. So wie bei Bundeswehr-Manövern früher immer Blau gegen Rot gekämpft hat - und nicht Nato gegen Warschauer Pakt. Doch die Vorstellung, daß ein terroristischer Anschlag auch an der Spree Wirklichkeit werden könnte, ist nach den Blutbädern von Madrid (2004) und London (2005) nicht so abwegig. Dazu kommen "latente deutsche Ängste" wie die vor einer Vogelgrippe-Pandemie.

So spielen die Jungen und Mädchen vom Arbeiter-Samariter-Bund ihre Rolle besonders glaubwürdig. Sie husten, krümmen sich wie vor Schmerzen, als sie das Zelt erreichen. Hier werden sie in einen Männer- und in einen Frauen-Bereich getrennt.

Nur als ein Mädchen unsicher nachfragt, ob sie "wirklich alles ausziehen" soll - auch angesichts all der Kameras - bleibt die Übung eine Übung. In Badeklamotten werden die "Anschlagsopfer" zur Dusche geführt, von oben bis unten abgespült und in hintere Behandlungsräume geführt.

"Die hier gesammelten Erfahrungen sind eine wichtige Grundlage für die Einrichtung weiterer Dekontaminationsstellen an geeigneten Berliner Krankenhäusern", sagt Knake-Werner über den reibungslosen Ablauf.

Ob und wie der Ernstfall aussehen könnte, weiß die Senatorin aber auch nicht. Sie spricht für alle Beteiligten: "Ich kann mir ein ,Worst-Case-Scenario' nicht vorstellen, will es auch nicht. Ich kann nur hoffen, daß es nicht eintritt."

Ein stolzer Moment für die deutsche Hauptstadt:

Eine halbe Million Menschen feierte die Eröffnung des neuen Hauptbahnhofs. Doch die Messerattacke eines 16jährigen (siehe unten) weckt Furcht vor kommenden Großereignissen Foto: Eckel


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