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10.06.06 / Gute, alte Zeit? / Über die guten und schlechten Dinge der Kaiserzeit

© Preußische Allgemeine Zeitung / 10. Juni 2006

Gute, alte Zeit?
Über die guten und schlechten Dinge der Kaiserzeit

Auf dem Sperrmüll entdeckte ein Berliner in den 1970er Jahren einen ungewöhnlichen Koffer. Enthalten waren Dokumente sowie Fotos, die Kaiser Wilhelm II., seine zweite Frau Hermine und andere Angehörige der Familie zeigen. Die Dokumente erzählen unter anderem von der Beisetzung Wilhelms II. in Doorn sowie von verschiedenen Geburtstagen und ähnlichen Ereignissen. Beim Betrachten der über 100 Fotografien in der Ausstellung "Die Kaiser und die Macht der Medien" im Schloß Charlottenburg erinnerte sich der Berliner wieder an diesen alten, inzwischen längst vergessenen Fund. Der Finder nahm mit der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg Kontakt auf, die gemeinsam mit ihm schließlich den ungewöhnlichen Kofferinhalt auf der Ausstellung präsentierte.

Das Wilhelminische Zeitalter ist für viele unserer Väter, Großväter und Urgroßväter die gute alte Zeit gewesen, mit ihren 43 Jahren tiefen Friedens glücklicher als alles, was nach ihr kommen sollte. Aber die Welt von damals war in Wirklichkeit keine so heile Welt, der Unterschied zwischen arm und reich, hoch und niedrig oft zu kraß. Stefan Zweig hat von einem "Goldenen Zeitalter der Sicherheit" gesprochen, in dem die Rechte des einzelnen verbrieft waren und seine Pflichten vorgeschrieben, in dem jeder wußte, was ihm erlaubt und verboten war, wieviel er besitzen durfte und was ihm nicht zukam. In den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts war das Leben durch die neuen Errungenschaften der Technik leichter geworden. In vielen Wohnungen gab es fließendes Wasser, elektrischen Strom und Gas zum Kochen. Dank der medizinischen Forschung waren Diphtherie, Tuberkulose und Typhus fast ausgerottet. Deutsche Wissenschaftler und Schriftsteller wurden mit Nobelpreisen für Physik und Chemie sowie für Literatur ausgezeichnet. Die langen Jahre des Friedens verdankten die Deutschen nicht zuletzt ihrem Eisernen Kanzler Otto von Bismarck, der mit seinem höchst komplizierten außenpolitischen System der Bündnispolitik dazu beigetragen hat. Durch die Einführung von Sozialgesetzgebung (Kranken-, Unfall- und Arbeitsschutz) sowie progressiver Einkommenssteuer machte er Deutschland innenpolitisch zum fortschrittlichsten Staat der damaligen Zeit. Dieser guten alten Zeit gaben die beiden Kaiser Wilhelm ihren Namen. Wilhelm I., der "Kartätschenprinz", war schlicht, pflichtbewußt und ein wenig steif. Wilhelm II. hatte eine rasche Auffassungsgabe, ein glänzendes Gedächtnis und Charme, war aber auch oberflächlich, wankelmütig, wichtigtuerisch und uniformverliebt, wie seine Kritiker feststellten. Er war technikbesessen und reiselustig. Der Volksmund nannte ihn auch ein wenig spöttisch den "Reisekaiser".

Die sogenannte gute alte Zeit hatte auch ihre Schattenseiten. Wohnungsnot, Elendsviertel, Kinderarbeit, Arbeitszeiten von 15 bis 16 Stunden prägten die "herrlichen Zeiten". Die Frauen hatten kein Wahlrecht und keinen Zugang zu Studium oder akademischen Berufen. Ein Offizier galt mehr als jeder Zivilist, eine Tatsache, die im Schelmenstreich des Hauptmanns von Köpenick offenbar wurde. Hunderttausende Deutsche verließen ihre Heimat, weil sie ohne Hoffnung waren, je über das Existenzminimum hinaus zu kommen, und wanderten nach Amerika aus.

Das bereits 1986 in Erstauflage erschienene Sachbuch "Herrliche Zeiten" des in Königsberg aufgewachsenen Siegfried Fischer-Fabian, das nun als Taschenbuch neu herausgekommen ist, beleuchtet diese Jahre um die Jahrhundertwende. Wer mehr über das Wilhelminische Zeitalter erfahren möchte, dem bietet dieses Buch eine übersichtliche, interessante Einsicht in unsere Geschichte. Denn vieles von dem, was damals entstanden ist, macht heute noch unser Leben aus. B. Mußfeldt

Siegfried Fischer-Fabian, "Herrliche Zeiten", Bastei Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach, broschiert, sw Fotos, 429 Seiten, 8,90 Euro, Best.-Nr. 5574


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