23.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
17.06.06 / Es war wie bei einer Parade / Ein Ostpreuße erinnert sich an den Beginn des Rußlandfeldzuges im Juni 1941 und die Flucht aus Gumbinnen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 17. Juni 2006

Es war wie bei einer Parade
Ein Ostpreuße erinnert sich an den Beginn des Rußlandfeldzuges im Juni 1941 und die Flucht aus Gumbinnen
von Joachim Kiehl

Es war der 22. Juni 1941. Der Lärm der am Himmel ostwärts in Richtung Sowjetunion ziehenden deutschen Luftwaffenverbände und der auf der Straße an uns vorbeiziehenden nicht enden wollenden Kolonnen deutscher Panzer und Artillerieverbände sowie zu Fuß und hoch zu Roß marschierender Soldaten riß uns in der Morgenfrühe dieses Tages jäh aus dem Schlaf. Ein Bild das mir unvergessen bleiben wird. Was war geschehen? Wie man später erfuhr, war das der Beginn des Rußlandfeldzuges. Als Kind empfand ich das Ganze als "sehr spannend", ohne zu ahnen, welche katastrophale Folgen sich insbesondere für Ostpreußen einmal daraus ergeben sollten.

Im Spätsommer 1944 rückte die Ostfront auch auf den Gumbinner Raum vor, so daß wir uns nun in unmittelbarer Gefahr befanden. Der Donner der Artillerie beider Seiten war bereits deutlich zu vernehmen. Unser Vater, der im Gumbinner Heimatregiment Soldaten ausbildete und sich später für den Einsatz an der Ostfront meldete, vermied es, über die uns drohende Gefahr zu sprechen, zumal er hoffte, der Russe werde die Reichsgrenze niemals überschreiten, und weil er uns nicht unnötig ängstigen wollte. Uns Kindern gegenüber schwieg man ohnehin. Wir lebten dann erst einmal weiter wie im tiefsten Frieden.

Um den Zugriff des auf Gumbinnen weiter heranrückender Sowjetrussen zu entgehen, verließ unsere Mutter mit uns fünf Kindern zusammen unsere Heimatstadt mit einem Lazarettzug im festen Glauben, später wieder zurückkehren zu können. Aber wir sahen unser Haus in der Richard-Wagner-Straße nie wieder. Perwilten, nahe Königsberg, wurde zu unserem Ausweichquartier, wo es zunächst völlig ruhig war. Das sollte sich aber bald ändern, als am 27./28. und 29./30. August 1944 Königsberg von der Royal Air Force im Zentrum und vom Nordbahnhof bis zum Hauptbahnhof völlig zerstört wurde, auch das Schloß und die Universität, wo einmal der Kurfürst von Brandenburg zum König in Preußen gekrönt worden war und Immanuel Kant gelehrt hatte. Unvergessen ist mir anläßlich eines Einkaufs in dieser geschichtsträchtigen Stadt der Anblick aus seuchen-hygienischen Gründen mit Chlorkalk bestreuter, bergeweise gestapelter Leichen, verkohlter Toter, noch brennender Häuser, durch die Hitze verbogener Straßenbahnschienen, herabhängender Telefon- und Elektroleitungen, mit Löschwasser überfluteter Straßen sowie nicht zuletzt auch nach ihren Eltern schreiender Kinder und Eltern, die ihre Kinder suchten. An den Kauf eines schönen braunen Mantels für mich im stark beschädigten Kaufhaus Karstadt und an einen sich dann anschließenden Besuch bei Tante und Onkel im Stadtteil Maraunenhof erinnere ich mich ebenfalls noch recht gut. Von meinem Onkel, der ein hoher Wehrmachtsbeamter war und dem als Oberstabsintendant (Regierungsdirektor) die Verwaltung der Finanzmittel im Wehrkreis I - Ostpreußen - oblag, erhielt unsere Mutter wichtige Hinweise hinsichtlich einer weiteren Flucht.

Am Abend dieses Tages trafen wir ganz unverhofft unseren Vater auf einem kleinen Bahnhof. Er kam aus Polen und befand sich mit zwei Unteroffizieren auf dem Weg zum Truppenübungsplatz Stablack bei Zinten, um hier neue Einheiten zusammenzustellen - Führerreserve. Danach sollte eine Verlegung in den Raum Warschau erfolgen. Vater gab Mutter den dringenden Rat, sich bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit, westwärts ins "Reich", so nannten es die ostwärts der Oder lebenden Deutschen, abzusetzen, da wir bald nicht mehr in Sicherheit wären. Unser Vater wußte bereits mehr als er uns preisgab.

Die beiden Unteroffiziere sind kurz darauf in Warschau von Scharfschützen aus dem Hinterhalt durch Kopfschuß gefallen. Bald darauf verließen wir Perwitten und begaben uns zunächst nach Friedrichsfelde bei Nemmersdorf. Zu dieser Zeit verübten die Russen am 21. Oktober 1944 das berüchtigte Blutbad - wir hatten wieder einmal Glück. Anfang November reisten wir nach Kenntnis dieser grauenvollen Ereignisse - wiederholt mit einem Lazarettzug - endgültig ins Reich. Das Deutsche Rote Kreuz und die Wehrmacht verpflegten so gut es ging, aber Mutter hat für uns gewiß oftmals gehungert - heute wissen wir es. Wir haben unseren Eltern ein "geistiges Denkmal" errichtet.

Auf einer tagelangen "Reise" ging es kreuz und quer durch Südostpreußen und zum Teil auch Hinterpommern. Wir fuhren grundsätzlich nachts, an im Dunkeln liegende Ortschaften und Bahnhöfen vorbei, die bereits durch Bomben und Artillerie beider Seiten sehr gelitten hatten, und Artillerieduelle waren deutlich zu vernehmen. Irgendwann erreichten wir eines Nachts Dirschau an der Weichsel. Unser Zug fuhr ganz langsam über die stark beschädigte Weichselbrücke und hielt einige Male. Einheiten der Waffen-SS sicherten die Brücke. Mitte November gelangten wir an die Oder, überquerten sie über die noch intakte Brücke. Jetzt waren wir im "Reich" und in "Sicherheit", so hofften wir.

Das vorletzte Domizil war ein Gut in dem mecklenburgischen Dörfchen Wildberg. Ich freundete mich mit den auf dem Gut frei arbeitenden deutschfreundlichen Weißrussen an und durfte auch mit den Pferden reiten. Nach der Wende habe ich erfahren, daß die Soldaten der Roten Armee den dortigen Gutsherren nichts angetan haben, weil die Russen es hier gut hatten.

Ganz überraschend besuchte uns Vater hier zu Weihnachten 1944 und blieb bis Anfang Januar 1945. Er mußte dann nach Polen an den Baranow-Brückenkopf, von dem aus der Russe Mitte Januar eine Großoffensive beginnen wollte, und zwar bis an die Oder oder sogar nach Berlin, um Deutschland den "Todesstoß" zu geben - er hatte sich erst einmal tüchtig übernommen. Auf dringenden Rat unseres Vaters, uns weiter gen Westen abzusetzen, setzten wir am 3. März unsere "Exkursion" kreuz und quer, jetzt durch Norddeutschland, fort und gelangten über Lauenburg an der Elbe nach Lübtheen. Hier ist unser Zug dann einfach abgestellt und danach von Jagdbombern der Briten angegriffen worden. Es gab sehr viele Tote sowie Verletzte und einer meiner Brüder verlor für etwa ein Vierteljahr die Sprache, auch ich hatte kurz Sprachprobleme. Die letztmalige Irrfahrt führte uns nach dem nahe Dömitz gelegenen Woosmer. Und hier erlebten wir bereits am 5. Mai 1945 das Ende des grausamsten Krieges aller Kriege durch den Einmarsch der Amerikaner - es fiel kein Schuß - es war wie bei einer Parade.

Bei einem Einkauf in Königsberg sah ich die Spuren der Angriffe der Royal Air Force vom 27./28. und 29./30 August 1944

Unsere Flucht endete in Woosmer, nahe Dömitz, wo für uns der Krieg am 5. Mai 1945 mit dem Einmarsch der GI endete


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren