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24.06.06 / Kurioses Erbe / Ein Wehrturm gegen die Schmach der Armut

© Preußische Allgemeine Zeitung / 24. Juni 2006

Kurioses Erbe
Ein Wehrturm gegen die Schmach der Armut
von Helga Schnehagen

Ihr werdet sehen – mein Turm wird noch bewundert werden, wenn eure Häuser schon längst nicht mehr stehen“, prophezeite Margarete Böttiger trotzig ihren Nachbarn.

Rund 650 Jahre hält sich das 90 Zentimeter starke Mauerwerk des Lindleinturms in Creglingen nun schon aufrecht. Die Vorhersage hat also eine gewisse Berechtigung.

Darf man hier wirklich eintreten? Die Bewohnerin scheint gerade außer Haus, Pardon, außer Turm, zu sein. Der Blick des Besuchers schweift über die armselige Habe der kleinen Stube. Hemd und Handtuch hängen zerlöchert am Haken, aus einer Toilettentasche quillen Medikamente, auf dem Tisch stapeln sich Zeitschriften und Papiere, das Bett versinkt unter einem Berg von Decken und der Wasserkessel auf dem Windofen wartet nur darauf, erhitzt zu werden.

An die Wand ist der Schwarz-Weiß-Abzug eines Hochzeitsbildes geheftet. Täglich saß Margarete Böttiger auf dem einfachen Holzstuhl davor. Wer mag hier geheiratet haben? Margaretes Mutter war ledig, sie selbst wurde 1897 in Creglingen unehelich geboren. Verheiratet war auch sie nicht. Dafür besaß sie den Turm. Ihre Familie waren die Tiere, vor allem Katzen. „Auf Wiedersehen im Himmel“ notierte sie im Kalender hinter jedem Datum, an dem einer ihrer Lieblinge verstorben war. Dazu gehörte auch das „liebe Perlhuhn“. Als sie selbst 1995 im Alter von

98 Jahren entschlief, hinterließ sie der Stadt 325000 Mark und den Auftrag, ihr Heim ungeachtet aller materieller Wertigkeit zu konservieren und aus dem Lindleinturm ein Heimatmuseum zu machen.

Dafür hatte die Magd und Tagelöhnerin ihren Nachttopf 70 Jahre lang im Stall hinter dem Turm entleert und Holz und Brikett zum Herd geschleppt. Einziger Luxus waren ein Eisschrank sowie in späteren Jahren ein Gaskocher und ein elektrischer Heizkörper.

Ein bewußt ärmliches Leben, obwohl sie es als Dienstmädchen in sogenannten besseren Häusern anders kennengelernt hatte. Als ihr die schwer erkrankte Mutter im Juli 1927 schrieb: „Liebe Tochter der Thurm ist noch nicht verkauft. Ich denke, wenn es Gottes Wille ist, komme ich vom Armenhaus raus ... ich kann es nicht mehr erwarten, bis Du kommst“, kehrte die Tochter von ihrer Dienststelle aus Stuttgart nach Creglingen zurück und erwarb die Immobilie noch im selben Jahr. Für die Mutter jedoch zu spät. Sie verstarb wenige Monate vor dem Einzug.

Das heiß ersehnte gemeinsame Turm-Weihnachtsfest fand nicht mehr statt. Dafür verschwanden weder Weihnachtsbaum, noch Weihnachtsschmuck jemals wieder aus der Guten Stube. Auch nicht zu Margaretes Geburtstag am 19. Mai, wenn Pfarrer und Bürgermeister regelmäßig zum Gratulieren kamen. Einer der seltenen Tage, an denen das obere Turmgeschoß zu Ehren kam. Denn mit dem nie benutzten frisch bezogenen Bett war es seit dem Einzug Museum für die Mutter.

Seit Beginn des 13. Jahrhunderts gehörte das Dorf im Taubertal zum Besitz des Hauses Hohenlohe Brauneck. Am 19. Januar 1349 erhielt Gottfried III. von Kaiser Karl IV. die Erlaubnis, Creglingen zur Stadt zu erheben und diese mit Gräben, Mauern und Türmen zu befestigen. Die exakte Entstehungszeit der mittelalterlichen Befestigungsanlage ist bislang unerforscht. Aufgrund einer Urkunde von 1362, die Creglingens Einwohner als Oppidani bezeichnet, nimmt man an, daß sie zu diesem Zeitpunkt bereits bestand. Noch im frühen 19. Jahrhundert war Creglingen vollständig umwehrt. Erst durch die Stadterweiterungn im 20. Jahrhundert wurde die Stadtbefestigung weitgehend abgebrochen.

Der Lindleinturm war nach dem Dreißigjährigen Krieg als Lagerraum verpachtet, 1795 als „entbehrlicher Thurm“ versteigert und zum „Wohnhäußlein“ umgebaut worden. 1999 wurde er als Heimatmuseum eröffnet. In zwei weiteren Wach- und Wehrtürmen, die ebenfalls den Zeitläuften trotzen konnten, sind heute komfortable Ferienwohnungen eingerichtet.

Lindleinturmmuseum: Öffnungszeiten Freitag von 10 bis 12 Uhr, am Wochenende von 10 bis 12 und von 14 bis 17 Uhr.

Die Bewohnerin scheint gerade außer Haus zu sein

Lindleinturm: Innenansicht der Guten Stube mit permanenter Weihnachtsdekoration Foto: K.Hein


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