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15.07.06 / Staglieno vergessen ? - Nie ... / Der Besuch eines ungewöhnlichen Friedhofs läßt Fragen über das Werden und Vergehen aufkommen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 15. Juli 2006

Staglieno vergessen ? - Nie ...
Der Besuch eines ungewöhnlichen Friedhofs läßt Fragen über das Werden und Vergehen aufkommen
von Esther Knorr-Anders

Im Jahre 1830 bemühten sich die Verantwortlichen der Stadt Genua, allen voran der Marchese Gian Luca Durazzo, um einen neuen, großen Friedhof, der weit von der Stadt entfernt liegen und einem paradiesischen Garten gleichen sollte. Darüber hinaus sollte der Friedhof Zeugnis ablegen vom Glanz der Stadt, dem Reichtum ihrer Bürger und der Würde der Armen. Alle gesellschaftlichen Schichten, Ausländer und auch Nichtkatholiken (Israeliten, Moslems, Protestanten) sollten dort beerdigt werden, die Lebenden mit Lust umherspazieren. Unter letzterem Gesichtspunkt setzte sich die Sitte durch, Grabdenkmäler bereits zu Lebzeiten aufstellen zu lassen, um sich an der akkuraten Wiedergabe von Augenwimper und Mantille, Überrock und Orden und an der vorgefertigten Lobpreisung zu erfreuen.

Die Stadtväter erteilten Giovanni Battista Resasco den Auftrag, auf der Grundlage eines bereits vorhandenen Entwurfs des Architekten Barabino "etwas Grandioses" zu schaffen. Es entstand der Friedhof im Bisagno-Tal, das sich tief in die Ligurischen Berge streckt. Der "Cimitero di Staglieno" wurde weltberühmt - und zur blanken Herausforderung für die lombardische Hauptstadt Mailand. Legte Resasco bei der Anlage von Staglieno wert auf "ästhetisch, zierlich" im Sinne der gärtnerischen Gestaltung unter Mitspiel der Landschaft, so war Mailands Hauptziel "monumental".

Staglieno wurde weltberühmt und blieb es. Am berühmtesten aber wurden nicht die Familien-Kapellen, Galerien und Tomben, sondern das Grabmal der Caterina Campodonico, einer Brezelverkäuferin. Sie, die bei jedem Wetter Nüsse und Backwerk feilbot, sparte sich die Summe für ihr Standbild zusammen, um "unvergessen dazustehen". Ihrem Wunsche entsprechend schuf der Bildhauer Lorenzo Orengo das Grabdenkmal dieser Frau mit ihren Erkennungszeichen: Brezel und Nußkette. Die auf ihren ausdrück-lichen Wunsch "mundartliche" Gedächtnisinschrift verfaßte der Dichter Giambattista Vigo, den sie kannte.

Vermutlich wird jeder, der zum ersten Mal die Totenstadt betritt, in die Grabmäler-Galerie (Porticato inferiore) einbiegen. Es handelt sich um einen endlosen Komplex, Wandelhallen ähnlich. Wo man geht und steht pfeift der Wind, treibt Blätter herein und im Sommer Schmetterlinge. Beim Anblick der dicht bei dicht in Stein und Marmor verewigten Toten wird der Besucher entweder erstarren oder lächeln, Unsicherheit spüren. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß viele sich ärgern. Zum Beispiel aus weltanschaulichen Gründen, denn vor den Augen entfaltet sich Verschwendung, Prunksucht, Protzerei. Der christliche Besucher könnte sich brüskiert fühlen, weil nichts christlich wirkt, nicht einmal das Kreuz.

Den pietistischen Besucher wiederum wird die unverhohlene Erotik stören: Jünglinge, mit knappstem Lendenschurz versehen; lediglich von Haar und manchmal einem Stück Schleier bekleidete Töchter und Ehefrauen (auf diesem Friedhof unanstößige Selbstdarstellungen); auch die himmelwärts strebenden, von Nymphen umringten Herren dürften nicht unbedingte Billigung finden. Unbestreitbar bleibt, daß der Besucher verschieden Anstoß nehmen wird. Doch Staglieno vergessen, das wird niemand können.

Ich wandere durch die Galerie. Beim Grabmal des Augenarztes Enrico Amerigo bleibe ich lange. Das Mädchen mit der Schürze wird von jedem fotografiert. Keine Fotografie vermag wiederzugeben, daß dies Kind blind ist. Ebenso der kniende Greis. Erschrocken blicke ich weg.

Ich suche sie. Caterina Campodonico. Nach der zeitlichen Belegung der Galerie müßte sie zu finden sein. Ich spreche mit einem Wächter. Nenne den Namen der Gesuchten. Deute eine Brezel an. Es muß mißverständlich aussehen. Der Mann errötet. "Caterina", ruft er dann und zeigt in die Ferne, "Galleria Sant Antonino."

Ich laufe dem Halbrund dieser Galerie zu, die Stufen hinauf. Hier kann ihr Denkmal nicht stehen. Es ist eine andere Zeit. Hundert Jahre später. Die Skulpturen werden von der Sonne getroffen. Sie verfärbt sie, verleiht ihnen Leben. Rita Salvi im Brautschleier lächelt, wie sie in der Minute ihrer Trauung gelächelt haben mag. Dem Kapitän Coscia könnte man "Gute Fahrt" wünschen. Nachts möchte ich Sant Antonino nicht durchstreifen. Es würde auch sehr hallen.

Ich höre Schritte, wende mich um. Ein Herr kommt die Stufen herauf. Er trägt einen für diese Jahreszeit ungeeigneten Mantel und geht auffallend vorsichtig. Aus seinem Gesichtsausdruck ist zu schließen, daß er ebenso wenig gestört werden möchte, wie ich. Ich gehe rascher ...

Und stocke. Auf einem Pfühl schläft die Liebesgöttin persönlich. Schläft mit Rosen unter der Brust. Es ist die Geliebte eines Genueser Apothekers. Selbst im Todesschlaf wollte er sie auf sich ruhen haben. "Und laß uns noch nach hunderttausend Jahren, vereint als Sturmwind durch die Lüfte fahren", zitiere ich unwillkürlich.

Fingerspitzen berühren meinen Ellenbogen. "Vollendet, nicht wahr? Eros, Hypnos, Thanatos: Die Liebe, der Schlag und der Tod", sagt eine Stimme neben mir.

Der graubemäntelte Fremde hat sich zu mir gesellt. Er spricht schleppend. Er rät mir, die Grabstelle der Erba aufzusuchen. Die Schlafende halte drei Mohnkapseln in der Hand. Bei den Pienovis beuge sich die Frau über das Bett ihres Mannes, lüfte die Decke und sähe den Totenschädel.

"Gehen Sie durch den Boschetto. Dämonen, Monstren werden Sie entdecken. Morbositäten. Der Tod tanzt mit der Schönen ..."

Ich beeile mich, diesem Gesprächspartner zu entkommen. Folgt er mir? Nein.

Ich laufe die Treppen zur Cappella dei Suffragi hinauf. Auf dem obersten Plateau bleibe ich stehen. Ich blicke auf die Totenstadt, deren Felder und Zonen. Aus dieser Höhe wirken die Spaziergänger winzig, störend. Einen sittenwidrig hellen, heiteren Hain nennen die Toten ihr eigen, durch den der Wind fährt. Über den Gräbern scheint ein Lachen zu tosen. Das auf- und abschwellende Gelächter der Verstorbenen Genuas. Sekundenlang ist mir, als stöße der Wind mich die Treppe hinunter, als stürze ich in dieses Lachen.

Aus einem Pfad tritt jener Herr. Ohne zu zögern verlasse ich das Plateau über einen Seitenweg. Ich gelange in ein Kolumbarium. Es sind Grabkammeranlagen, die Postschließfächern ähnlich sind. Allgemein werden in Kolumbarien die Aschenreste und Gebeine jener beigesetzt, die sich eine Grabstätte mit Monumentaldenkmal nicht leisten können und deshalb wie im "Taubenschlag", neben- und übereinander, zur Ruhe kommen. Kerzen flackern in den Haltern. In der Gangmitte stehen Sarkophage. Ich gehe an ihnen entlang, weit in die Halle.

"ALLA CARA MEMORIA", lese ich und bin, dem Gespür nach, nicht mehr allein. Ich schaue umher. Niemand ist zu sehen. Dennoch ... Ich blicke in die Höhe. Da steht sie. Auf einer dieser Leitern, mit denen man an die oberen "Schließfächer" herankommt. Es ist eine alte Frau. Unentwegt schaut sie mich an. Ihre Hand, in der sie Alpenveilchen hält, bewegt sich nicht. Es ist in Staglieno üblich, den Skulpturen frische Blumen in die Hand zu stecken und deshalb weiß ich nicht, ob die Frau ... doch dann, endlich, rührt sie sich. Drückt die Stirn gegen die Namenstafel. Sie murmelt. Eindringlich ...

Geräuschlos eile ich zurück. Meine Hand streift die Särge. Sie wird staubig. Ich fasse auf einen Schuh. Einen Kinderschuh. ALLA CARA MEMORIA. Auf dem Sarkophag wird der Knabe Pierino an der Hand eines Engels hinübergeleitet. Es muß auf dem Schulweg geschehen sein, er hält die Mappe in der Hand. Eine aus Samt wahrscheinlich. Aus Samt könnten auch sein Wams und die Halsschleife gewesen sein. Pierinos Augen verraten keinerlei Überraschung, auch keine Einwilligung. Er schaut aus wie einer, dem man wiederholt sagte: "Du mußt, mach schon, komm."

Ich blicke zum Eingang. Der Fremde geht da vorüber.

Ich blieb noch im Kolumbarium. Lange genug, um sicher zu sein, daß der Friedhofsgänger sich entfernt hatte. Dann setzte ich meinen Spaziergang fort, geriet auf schmale, dunkle Wege. Büsche wuchsen ineinander. Ich war im Boschetto; das ist ein Gehölzgarten, Lustgarten und - Irrgarten.

Ich hoffte, daß ich ihr hier begegnen würde. Wo sonst hätte es Caterina Campodonico so gefallen haben können wie im Boschetto mit seinen verwilderten, eingesunkenen Grabstellen, brüchigen Skulpturen, mit dem Kinderfeld, wo zwischen Kreuzen und auf Gräbern Putten spielen. Plötzlich glaubte ich sie zu erkennen. Sie sitzt neben ihrem blätterüberwuchertem Grab, döst in die Sonne, eine betagte Frau, berechtigt müde.

"Die Pescia", sagte die Stimme des Fremden. Ich fuhr zusammen, wollte weglaufen, raus aus der Totenstadt. Mir war, als fände ich, je mehr Minuten verstrichen, nicht ohne weiteres zum Ausgang zurück. Ich tat es auch.

Dabei verlief ich mich im Boschetto.

Auf einem seiner stillsten Wege, an einer Mauer, machte ich Rast. Ich hatte Durst, doch Friedhofswasser ist nirgends trinkbar. Ruhiger geworden, begann ich einen Serpentinenpfad hinabzusteigen. An einer Weggabelung pflanzte ein Gartenarbeiter Stiefmütterchen. Ich bat ihn, mir den Weg zum Hauptportal zu zeigen. Es mußte weit sein ...

Ich hielt die mir angewiesene Richtung ein. Aber gänzlich verlor ich das Unbehagen nicht, an jenem Gemäuer schon gestanden zu haben, hier vorbeigekommen zu sein. Wenn man nervös genug ist, ähneln alle Wege dem einen, dachte ich und ...

Die Zweige des Gebüsches bewegen sich, werden zur Seite gedrückt. Aus dem Blättergewirr tritt der Fremde. Zusammen blicken wir auf die feuchten Pflanzen, Gesteinsreste, wo zwei umschlungen liegen mit einem Lächeln, als begänne die längste Nacht. Das Wesen umarmt ein Skelett.

"Der Schlaf, der Tod und die Sippe der Träume." Der Fremde lachte leise. Er sagte: "Sie finden Staglieno absurd. Womöglich kitschig. Gentilissima, jede Liebe enthält Kitschelemente. Wir Genueser lieben Staglieno. Es ist nicht notwendig, daß dies von ausländischen Gästen begriffen wird."

Er zog den Hut. Er ging. Als er nicht mehr zu sehen war, fiel mir ein, daß ich ihn hätte bitten sollen, mich zu Caterina Campodonico zu führen. Er, der sich im Cimitero auskannte, als wäre er zwischen den Denkmälern zu Hause, hätte mir Caterinas Platz zeigen können.

Ich habe sie nicht gefunden. Oft war ich überzeugt, mich in ihrer unmittelbaren Nähe zu befinden. Hier, in der Galerie? Dort, hinter jener Säule? Oder drüben, im Oleander?

Sie war es nicht.

"Avanti, Signora, Avanti."

Der Gepäckträger läuft vor mir her. Schiebt die Koffer ins Abteil. Die Türen werden zugeschlagen. Der Riviera-Expreß setzt sich in Bewegung. Beinahe hätte ich den Zug versäumt.

Vor dem Bahnhof, an einem Kiosk, zögerte ich. Zwischen Illustrierten lag ein einzelnes Heft: Cimitero di Staglieno. Ich mußte es kaufen. Mir blieb keine Zeit, auf das Wechselgeld zu warten. Die Verkäuferin blickte verwundert.

Ich schlage das Heft auf. Da steht sie. Mit Nußkette und Riesenbrezel. Caterina Campodonico. Und ein bißchen lachte sie.

 

Unsterblich: Standbild der Brezelverkäuferin Caterina Campodonico auf dem Friedhof Staglieno in Genua Foto: Archiv


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