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12.08.06 / Täuschung oder Selbstbetrug? / Was die Deutschen von der Judenvernichtung haben wissen können

© Preußische Allgemeine Zeitung / 12. August 2006

Täuschung oder Selbstbetrug?
Was die Deutschen von der Judenvernichtung haben wissen können

Das Buch "Davon haben wir nichts gewußt! - Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945" ist gut; unzulänglich sind der Titel und der Einstieg. Der beginnt mit dem Titel-Zitat und fährt fort: "Der Satz ist allgemein bekannt: Es ist die Antwort, die man wohl am häufigsten hört, wenn man Deutsche der älteren Generation befragt, was sie denn als Zeitgenossen seinerzeit über die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden ... in Erfahrung gebracht haben."

Wer sich, wie der Rezensent, seit Jahrzehnten mit dieser Thematik befaßt, glaubt die Feststellung verantworten zu können, daß die angeblich "allgemein bekannte" Antwort der Phantasie des Autors entsprungen ist, um mit einem Stolperstein die erwünschte Aufmerksamkeit auszulösen. Niemand, der die NS-Ära als Zurechnungsfähiger erlebt hat, wird bestreiten, daß ihm damals die Judenverfolgung zumindest zu Ohren gekommen ist.

Gilt dies auch für die massenhafte Ermordung von Juden? Longerich bietet eine Fülle amtlicher Informationen, die Anlaß zu den schlimmsten Befürchtungen geben müßten, so daß man von einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit zu sprechen versucht ist. Was Zweifel nährt, sind die Bekundungen von Menschen, die in hohem Maße Vertrauen genießen und die bis heute ihre Unkenntnis beteuern, so der Altbundespräsident Richard von Weizsäcker sowie die Historiker Joachim Fest und Hans-Ulrich Wehler. Helmuth von Moltke, einer der Köpfe des Hitlerattentats vom

20. Juli 1944, den gerade die Judenverfolgung motivierte, schrieb 1943, daß das deutsche Volk nichts von der Tötung Hunderttausender von Juden wisse. "Sie haben immer noch die Vorstellung, daß die Juden nur ausgegrenzt worden sind und nun im Osten in ähnlicher Weise wie vorher in Deutschland weiterlebten." Irrtum, Täuschung, Selbstbetrug? Dürfen, müssen wir das unterstellen?

Das Urteil über den wahren Sachverhalt fällt noch schwerer, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß selbst zahlreiche jüdische Opfer ganz entschieden ihr Nichtwissen beteuern. Hier nur zwei dieser Stimmen: Der Auschwitzflüchtling Friedemann Bedürftig glaubt zu wissen: "Die in Auschwitz Ankommenden hatten samt und sonders nicht nur keine Ahnung, wo sie waren, sondern auch nicht die geringste davon, was ihnen zugedacht war. Sie ließen sich nicht etwa wegen ihrer ‚rassischen Minderwertigkeit', wie die Nazis gerne behaupteten, fast widerstandslos zur Schlachtbank führen, sondern weil sie gar nicht wußten, daß sie sich auf die Reise dahin begaben ..."

Im Kern damit völlig übereinstimmend ein anderer Überlebender auf Befragung: "Herr Professor Goldstein, als Sie von hier in die Züge gepfercht wurden nach Auschwitz, haben Sie gewußt, was Auschwitz ist?" "Nein, ich hatte das Wort Auschwitz damals nicht einmal gehört. Nach dem Krieg habe ich erfahren, daß Leute was gewußt haben. Wenn wir damals gewußt hätten, was Auschwitz war, glaube ich, hätten wir versucht zu flüchten, oder wir hätten eine Provokation gemacht, um erschossen zu werden." "Das heißt, die Täuschung hat funktioniert?" "Ja, das hat funktioniert."

Auf derlei Stimmen geht Longerich mit keiner Silbe ein. Das ist ein Manko. Auch sonst kommen die jüdischen Zeitzeugen kaum zu Wort. So werden dem Leser die aussagekräftigsten Beobachtungen Victor Klemperers, der zwar mehrmals zitiert wird, vorenthalten, Einsichten wie: "Fraglos empfindet das Volk die Judenverfolgung als Sünde."

Worin liegen dann die Verdienste von Longerichs Werk? Es bietet auf bislang einmalige Weise die amtlichen Veröffentlichungen über die Judenpolitik des Dritten Reiches. Es zeigt einerseits, daß die Judenverfolgung in der Weltanschauung des Nationalsozialismus einen zentralen Stellenwert besaß, zugleich aber auch, daß in den ersten Jahren der NS-Herrschaft dieser Aspekt in der von Goebbels dirigierten Öffentlichkeit eine relativ untergeordnete Rolle spielte. Erst dann folgten die schier unüberbietbar aggressiven, pauschalen Kakophonien zu Lasten derer, die seit eh und je an allem Unheil, dem aktuellen Krieg eingeschlossen, die Schuld trügen.

Longerich versucht ferner, "die damaligen Reaktionen auf diesen Kenntnisstand systematisch zu analysieren". Dabei beschäftigt er sich eingehend mit der Glaubwürdigkeit der amtlichen Berichte, die einerseits tunlichst objektiv, zugleich aber den Erwartungen der Partei- und Staatsspitze entsprechen sollten.

Viel wichtiger als die Frage: Wer wußte was? ist: Was konnte der wissende Gegner des NS-Regimes mit Aussicht auf Erfolg gegen den Völkermord unternehmen, ohne sich selbst und seine Angehörigen auf das Äußerste zu gefährden? Wie lautet die Ethik, die eine solche Selbstgefährdung Juden wie Nichtjuden zur Pflicht macht, selbst dann, wenn die Erfolgsaussichten gleich Null sind?

Unter der Überschrift "Zweierlei Kenntnisnahme" wurden in der "Frankfurter Allgemeine Zeitung" zwei Bücher zusammen rezensiert, das Buch von Longerich und mein Buch ",Das Volk ist ein Trost' Deutsche und Juden 1933-1945 im Urteil der jüdischen Zeitzeugen". Der Rezensent der "FAZ" behauptet, ich würde, was die Reaktion der Bevölkerung anlangt, zu "gänzlich anderen Ergebnissen" kommen. Mein Ergebnis kann dem Zitat in dem Buchtitel entnommen werden. Erfreulich ist, daß Longerich dem immer wieder beipflichtet, so wenn es unter Fazit heißt: "Überblickt man den gesamten Zeitraum der NS-Diktatur, wird ein deutlicher Trend erkennbar: Der Unwille der Bevölkerung, ihr Verhalten zur ‚Judenfrage' entsprechend den vom Regime verordneten Normen auszurichten, wuchs, je radikaler die Verfolgung wurde." So ist Longerichs Buch ein gewichtiger Beitrag, gegen die Vorgaben der Political Correctness der historischen Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen und unseren Vorfahren Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Konrad Löw

Peter Longerich: "Davon haben wir nichts gewußt! - Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945", München 2006, 448 Seiten, 24,95 Euro, Best.-Nr. 5666


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