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02.09.06 / Aus für die "Blutpumpe" / Vor 90 Jahren ließ die Oberste Heeresleitung den Angriff auf Verdun einstellen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 02. September 2006

Aus für die "Blutpumpe"
Vor 90 Jahren ließ die Oberste Heeresleitung den Angriff auf Verdun einstellen
von Jan Heitmann

Auf den Schlachtfeldern von Verdun finden die Toten keine Ruhe. Täglich dringen dort aus der Erde Helme und Schädel, Schenkel und Schuhe“. Das, was Erich Kästner in seinem Gedicht „Verdun, viele Jahre später“ beschrieb, ist auch heute noch Wirklichkeit. Die Opfer der größten Vernichtungsschlacht der Weltgeschichte sind so zahlreich, daß sie nie alle bestattet sein werden. Bei jeder Grabung, bei jeder Bahn, die der Pflug durch das Feld zieht, kommen die sterblichen Überreste derjenigen zu Tage, welche die „Blutmühle an der Maas“ nicht überlebt haben. Verdun – gewaltigstes Schlachthaus des Ersten Weltkrieges, Synonym für sinnloses Blutvergießen und die verfehlte Strategie des Stellungskrieges. Vor 90 Jahren befahl die Oberste Heeresleitung die Einstellung des Angriffs auf die Festung.

Jahreswechsel 1915/16 – die Hoffnung auf eine schnelle Beendigung des Krieges hat sich nicht erfüllt. Die deutschen Militärs hatten sich der trügerischen Hoffnung hingegeben, den Gegner in einer Reihe schnell geführter, existentieller Schlachten besiegen zu können. Der anfangs dynamische Feldzug ist in einem Stellungskampf erstarrt. Das komplexe Grabensystem reicht von der Nordseeküste bis zur Schweizer Grenze. Die Folgen des „Dramas an der Marne“ erfordern eine neue Strategie. General Erich von Falkenhayn, früherer preußischer Kriegsminister und seit November 1914 Generalstabschef, will durch eine Großoffensive eine Wende an der Westfront herbeiführen. Sein Operationsziel für 1916: Angriff auf den Festungsgürtel von Verdun, das Bollwerk Frankreichs gegen den deutschen Erbfeind. Dort sollen die Franzosen durch den dosierten Einsatz eigener Kräfte gebunden und in einer stationären und räumlich begrenzten Schlacht zermürbt und abgenutzt werden. So will ihnen Falkenhayn, der für seine starken Nerven ebenso bekannt ist wie für seinen Mangel an operativer Phantasie, an entscheidender Stelle schweren Schaden und einen irreversiblen Prestigeverlust zufügen. Mit anderen Worten: Er will bei den Franzosen die „Blutpumpe“ ansetzen. Die Generalität bleibt skeptisch, hält den eigenen Kräfteansatz und die Erfolgsaussichten für zu gering. Doch der Generalstabschef kann den Kaiser überzeugen. Sein Argument: Hinter der französischen Front gäbe es in Reichweite Ziele, für deren Behauptung die französische Führung gezwungen sei, den letzten Mann einzusetzen. Tue sie es, so würden sich Frankreichs Kräfte hier verbluten. „Tut sie es nicht und fällt das Ziel in unsere Hände, dann wird die moralische Wirkung ungeheuer sein“, schließt er seine Ausführungen, mit denen er dem Kaiser den Angriffsbefehl abringt.

Am 21. Februar 1916 ist es soweit. Um 8.12 Uhr feuert ein 38-Zentimeter-Geschütz den ersten Schuß auf das 13 Kilometer entfernte Verdun. Es folgt ein neunstündiges Artilleriefeuer von beispielloser Intensität. Doch der anschließende Großangriff bleibt schon im Vorfeld der Stadt liegen. Die Franzosen leisten erbitterten Widerstand, schießen massives Sperrfeuer und fügen dem Angreifer auf breiter Front schwere Verluste zu. Erst am dritten Tag können die deutschen Angriffsspitzen die vorderste feindliche Stellung nehmen, am vierten Tag die zweite. Am 25. Februar gelingt ein Erfolg über das Tagesziel hinaus: Eine Gruppe deutscher Infanteristen erstürmt das große Fort Douaumont, noch während eigenes Artilleriefeuer auf der Kuppel liegt. Die unerwartete Eroberung wird in Deutschland als großer Sieg gefeiert, doch bleibt sie ohne operative Bedeutung.

Jetzt wäre die Gelegenheit, zur Stadt Verdun durchzustoßen. Die Franzosen geben die Festung schon verloren und bereiten die Räumung des rechten Maasufers vor. Falkenhayn aber verweigert die Zuführung von Reserven. Dem deutschen Generalstabschef kommt es nicht auf einen schnellen Geländegewinn an, sondern auf ein Ausbluten des Feindes unter einer Feuerwalze. So erlahmt der deutsche Angriffsschwung, während sich der Widerstand der Franzosen verstärkt. Der zähe Defensivstratege Philippe Pétain übernimmt das Kommando, rettet die wankende Front und gibt seinen Truppen neues Selbstvertrauen.

Am 6. März dehnt die deutsche 5. Armee die Offensive auf das westliche Maasufer aus, von wo aus die Verteidiger die Deutschen ungehindert beschießen. Ziel sind die wichtigen Höhen 304 und „Toter Mann“. Auch hier kommt der Angriff nach Anfangserfolgen zum Stehen. Die Einnahme des „Toten Mannes“ gelingt erst am 20. Mai.

Nun beginnt die Front auch vor Verdun im Stellungskrieg zu erstarren. Falkenhayns Abnutzungsstrategie beginnt sich gegen den Angreifer zu richten. Die „Hölle von Verdun“ tut sich auf. Angriffe und Gegenangriffe, Geländegewinne und Geländeverluste halten sich die Waage. Das Schlachtfeld erweist sich als Faß ohne Boden, das alle personellen und materiellen Reserven verschlingt. Millionen von Granaten regnen herab – eine pro Quadratzentimeter! Das Leben in den Gräben ist fürchterlich. Der andauernde Beschuß, Versorgungsschwierigkeiten und schlechtes Wetter verlangen den Soldaten beider Seiten alles ab. Verwundung, Tod, Hunger, Durst, Nässe, Erschöpfung und Angst bestimmen den Frontalltag. In dieser Schlacht offenbart sich erstmals der industrielle Charakter des modernen Krieges. Sie bringt auf deutscher Seite einen neuen Soldatentypus hervor. Geprägt von grimmiger Sachlichkeit und militärischer Professionalität, tapfer und leidensfähig, aber seiner patriotischen Leidenschaften und seines heldischen Tatwillens beraubt, gibt es für ihn nur noch einen Gedanken: Überleben.

In der deutschen Generalität mehren sich die Zweifel am Sinn dieser Operation. Falkenhayn aber hält am Dogma der Vernichtungsschlacht fest. So geht das Sterben weiter. Angriff und Verteidigung werden immer verzweifelter. Gelegentlich gibt es noch deutsche Teilerfolge wie die Einnahme des Forts Vaux am 7. Juni und den Angriff auf dem Ostufer mit der Einnahme von Thiaumont und Fleury, das in den folgenden sechs Monaten noch 16mal den Besitzer wechselt. Die Offensive vom 11. Juli führt die Deutschen erstmals bis nahe an die Mauern der Stadt Verdun, sie nehmen das Fort Souville.

Am 24. Juni starten britische und französische Truppen eine große Entlastungsoffensive an der Somme. Die Oberste Heeresleitung zieht Truppen dorthin ab und verstärkt die Ostfront, wo die russische Brussilow-Offensive die österreichischen Linien durchbrochen hat. Der Kampf um Verdun aber geht trotzdem mit unverminderter Intensität weiter. Erst am 15. August räumt Falkenhayn ein, daß die Schlacht verloren ist und zieht ihren Abbruch in Erwägung, da „Sparsamkeit in der Ausgabe von Menschen und Munition“ geboten sei. Sein strategischer Irrtum kostet ihn Amt und Reputation. Am 29. August wird der Generalstabschef entlassen.

Durch dieses Revirement an der militärischen Führungsspitze wird die deutsche Kriegsführung in die Hände des Generalfeldmarschalls Paul von Hindenburg und seines Generalquartiermeisters Erich Ludendorff gelegt, jenes militärisch überaus befähigten Duos, das sich von tradierten strategischen Vorstellungen freizumachen versteht. Sie leiten die Abkehr von der von Falkenhayn propagierten Ermattungsstrategie ein. Zugleich tritt eine Wendung im Verhältnis zwischen militärischer und politischer Führung ein, in dem das Militär die dominierende Rolle zu übernehmen beginnt. Am 2. September gibt die Oberste Heeresleitung den Befehl zur Einstellung des Angriffes auf Verdun. Da sind die deutschen Truppen bereits auf ihre Ausgangsstellungen vom Februar zurückgedrängt. Damit ist der von Falkenhayn unter dem Eindruck des Verlustes der deutschen Offensivfähigkeit initiierte Versuch, numerisch als Sieger aus einem Stellungskrieg hervorzugehen, endgültig gescheitert.

Der Kampf um Verdun aber ist noch nicht vorbei. Bis Ende des Jahres setzen die Franzosen ihre Gegenoffensive fort, erst dann stellen auch sie die Angriffe in diesem Frontabschnitt ein. Für die nächsten zwei Jahre liegen sich die Gegner im statischen Grabenkrieg gegenüber.

Erst das Kriegsende beendet die Kampfhandlungen bei Verdun. Es gibt keinen Sieger und keinen Besiegten. Weder der Angreifer noch der Verteidiger kann einen strategischen Erfolg verbuchen. Der Hauptkampf vor Verdun hat mehr als 30 Wochen getobt. Genaue Opferzahlen gibt es nicht. Falkenhayns Plan vom Ausbluten des Feindes, dieses Wagnis zur Rettung aus einer verfahrenen militärischen Lage, hat etwa eine halbe Million Gefallene und mehrere Millionen Verwundete auf beiden Seiten gefordert – mehr als 1000 Tote pro Quadratkilometer Schlachtfeld.

Die Schlacht von Verdun bedeutet eine tiefe Zäsur in der Geschichte des Ersten Weltkrieges. Die Leistungs- und Leidensfähigkeit der deutschen Soldaten ist erschöpft, die infanteristische Kampfkraft des deutschen Heeres geschwunden. Dies bringt dem Reich den endgültigen Verlust der strategischen Initiative. Die moralischen Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung sind ähnlich. Die sittliche Kraft, der innere Zusammenhalt und der Kampfgeist der Menschen haben ernsten Schaden genommen und sind einer allgemeinen Apathie und dumpfem Pessimismus gewichen, die einen lähmenden Einfluß bekommen. Was folgt, ist ein langer und zermürbender Kampf, der die wirtschaftliche und militärische Macht Deutschlands am Ende zerbricht und das Kaiserreich stürzen läßt.


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