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16.09.06 / Die Platte muß weg / Schrumpfung kreativ bewältigen: Schwedt wird nicht nur kleiner, sondern auch schöner

© Preußische Allgemeine Zeitung / 16. September 2006

Die Platte muß weg
Schrumpfung kreativ bewältigen: Schwedt wird nicht nur kleiner, sondern auch schöner
von Markus Schleusener

Das Knattern der Schlaghämmer übertönt hier alles, sogar den Verkehrslärm der nahegelegenen Passower Allee, der durch Schwedt verlaufenden Hauptschlagader. In der Straße am Waldrand wird gebaut.

In der Stadt an der Oder wird aber nicht auf-, sondern abgebaut. Es ist noch gar nicht so lange her, daß durch die Plattenbauten der Siedlung "Am Waldrand" Junge-Pionier-Züge marschierten und ihre Hymne "Bau auf, bau auf, freie deutsche Jugend, bau auf" sangen.

Jetzt - kaum eine Generation später - werden hier die Hinterlassenschaften des Sozialismus wieder abgetragen. Vor 30 Jahren hatte Schwedt an der Oder mit 27,5 Jahren das niedrigste Durchschnittsalter in der ganzen DDR. Seit 1990 sind die Geburtenraten in den Neuen Ländern zunächst dramatisch eingebrochen, haben sie sich seither nicht einmal mehr auf das niedrige westdeutsche Niveau erholt.

Am Schillerring ist ein Abbruchtrupp unterwegs. Ein Mann sitzt in seinem Bagger und planiert eine Fläche, auf der vor einigen Wochen noch ein Plattenbau stand. Jetzt verteilt der Bagger den Sand so, daß nicht zu erkennen ist, daß hier mal ein Baugrundstück war. Auf dem Bagger steht ein Firmenlogo. Die Abbruchfirma heißt sinnigerweise "3S Abriß".

Zu den rund vierzig Angestellten von "3S" gehört auch Nico Ehlert, der sich mit seinen Kollegen schon am nächsten Plattenbau zu schaffen macht. "Über 50 sind schon weg", berichtet er über die Hochhäuser. Es waren sogar Elfgeschosser dabei.

Der Abriß läuft immer nach demselben Muster: Mit Bagger und Kränen werden die Ruinen "einfach runtergehauen", berichten die Abrißexperten. "Dann werden die einzelnen Platten zerkleinert, bis sie trägerfähig sind", erklärt Ehlert. Das ganze Spektakel dauert gerade zwei Wochen.

Ehlert hat sogar einen Kollegen, der in den 70er Jahren beim Aufbau der DDR-Wohnsiedlung dabei war und später beim Abriß mitgemacht hat. Traurig ist hier darüber keiner. Wozu die Wohnungen, wenn keine Leute mehr da sind, fragt ein Kollege. Und häßlich seien die Plattenbauten allemal gewesen.

Schwedt an der Oder liegt näher an Stettin als an Berlin. Damit ist so gut wie alles gesagt über die Zukunftschancen der nordbrandenburgischen Stadt. In der DDR wurde aus dem verschlafenen Städtchen eine industrielle Hochburg gezimmert - mitten im Nirgendwo. Hier mündete die Pipeline mit dem sowjetischen Öl in die DDR.

Was kaum jemand ahnt, angesichts der steten Abwanderung der Schwedter nach Westen: Die Stadt ist noch immer ein bedeutender Industriestandort. 15 Prozent der gesamten gewerblichen Produktion von Brandenburg kommen von hier. Es gibt eine Raffinerie und zwei Papierfabriken. Bloß: "Das einzige, was diese Standorte nicht mehr brauchen, sind Menschen", seufzt Jürgen Polzehl, Schwedts Bürgermeister. Die offizielle Arbeitslosenrate liegt bei 24 Prozent. 1990 hatte die Stadt 52000 Einwohner. Die aktuelle Zahl liegt bei 36000. Für das Jahr 2020 wird eine Zahl von 30000 erwartet. Polzehl hat reagiert. "Wir haben einen ganzen Bezirk zugemacht", sagt er nüchtern. Der Ortsteil "Am Waldrand" wurde aufgegeben, die Mieter zum Auszug gedrängt. Die verbleibenden Plattenbausiedlungen wurden umgebaut.

Und so sah der Stadtumbau aus: "Das waren Fünfgeschosser. Das oberste Stockwerk wurde abgenommen, durch ein Dachgeschoß ersetzt", berichtet Polzehl. In einer Reihe wurden Mittelteile entfernt, so daß sogenannte "Stadtvillen" entstanden sind. Die Bewohner sind zufrieden. 1999 hat die Stadt mit dem großen Ab- und Umbau angefangen. Die Planungen gingen aber noch weiter zurück. Schon Mitte der 90er hatte die Stadtverwaltung das Projekt Stadtumbau auf die Tagesordnung genommen.

Die Bürger haben den Stadtumbau akzeptiert, gibt sich Polzehl, der vorher als Baudezernent Erfahrungen sammeln konnte, überzeugt. Was sollen sie auch anderes tun? Das Durchschnittsalter in den Neuen Ländern steigt und steigt, weil die Jugend abhaut. Von einst 15 Schulen mußten in Schwedt sieben dicht gemacht werden. Von drei Gymnasien ist noch eines übrig. Immerhin - manche Städte haben gar keines mehr. In einer Schule befindet sich jetzt das Rathaus, das vorher provisorisch untergebracht war.

"Wir hatten 25 Kindertagesstätten 1990, davon haben wir die Hälfte geschlossen", erzählt Polzehl. Die braucht er nicht mehr, seit kaum noch Kinder geboren werden. Es sind zwar noch immer rund 400 Säuglinge, die in Schwedt jedes Jahr das Licht der Welt erblicken. Doch davon seien einige aus der umliegenden Uckermark, so Polzehl. Und viele polnische Mütter kommen vom Ostufer der Oder, weil sie in Schwedt eine bessere Gesundheitsversorgung vorfinden.

Nico Ehlert und seine Kollegen sind beim Abrißunternehmen schon seit "fünf oder sechs Jahren dabei" - seit Beginn also. Sie wollen nicht weggehen, schließlich "haben wir ja noch Arbeit." Noch gibt es genug Plattenbauten einzureißen.


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