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30.09.06 / Mit Rat und Tat zur Stelle / Der "Weiße Ring" vertritt seit 30 Jahren die Interessen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 30. September 2006

Mit Rat und Tat zur Stelle
Der "Weiße Ring" vertritt seit 30 Jahren die Interessen von Kriminalitätsopfern
von Siegfried Schmidtke

Elfriede Möller (Name geändert) atmet schwer, wenn sie an den 18. Oktober 2004 denkt. Wie an jedem Montag ging die damals 76jährige auch an diesem Tag zum Friedhof, um das Grab ihres Mannes zu besuchen. Auf dem Weg zur Grabstätte hört sie plötzlich schnelle Schritte hinter sich. Als sie sich umdreht, steht ein etwa 30- bis 35jähriger Mann neben ihr. Er zerrt an ihrer Handtasche, versucht sie ihr zu entreißen. Elfriede Möller wehrt sich. Bei dem Gerangel rutscht sie aus und stürzt zu Boden. Mit großen Schmerzen schafft sie es nach einiger Zeit, wieder auf die Beine zu kommen und andere Friedhofsbesucher um Hilfe zu bitten. Der unbekannte Täter ist mit ihrer Handtasche geflüchtet.

Wegen der anhaltenden Schmerzen geht die 76jährige am nächsten Tag zum Arzt. Der stellt einen Oberschenkel-Halsbruch fest und organisiert einen Termin im Krankenhaus.

Elfriede Möller ist Opfer einer Gewalttat geworden, eines von bundesweit etwa 200000 im Jahr. Ihr Glück im Unglück: Als sie bei der Polizei den Handtaschenraub anzeigt, machen die Beamten sie auf den "Weißen Ring" und das "Opferentschädigungsgesetz" (OEG) aufmerksam.

Seit nunmehr 30 Jahren gibt es den bundesweit tätigen Opferhilfeverein "Weißer Ring". Ebenfalls seit 30 Jahren gibt es ein "Opferentschädigungsgesetz" in Deutschland. Es regelt die Ansprüche von Gewaltkriminalitätsopfern gegenüber dem Staat. Mit dem Gesetz übernimmt der Staat die Verantwortung dafür, daß es ihm nicht immer gelingt, den Bürger vor Kriminalität zu schützen.

Die zuständigen Behörden, die die Opferentschädigung regeln, sind die Versorgungsämter. Da Polizeiaufgaben Ländersache sind, tragen die Bundesländer die Verantwortung für die Gewaltopferhilfe. "Wir sind eine Landesbehörde", stellt Martin Kölling, Leiter der "Abteilung für Opferentschädigung" beim Versorgungsamt Köln, daher fest.

Allerdings haben es die Bundesländer 1976 geschafft, rund 40 Prozent der Leistungsausgaben für Gewaltopfer dem Bund aufs Auge zu drücken. Von den Gesamtausgaben für Opferhilfe im Jahr 2004 in Höhe von 136 Millionen Euro (einschließlich der Verwaltungskosten der Versorgungsämter) hat der Bund gut 30 Millionen übernommen.

Entschädigungsberechtigte Gewaltopfer - das können zum Beispiel sein: die Bankangestellten und die Kunden bei einem Banküberfall, die Besatzungsmitglieder und Passagiere eines entführten (deutschen) Flugzeugs, die von Bekannten oder Unbekannten vergewaltigte Frau oder die von randalierenden Fußballfanatikern zusammengeschlagenen Straßenpassanten. Und auch das entführte und acht Jahre gefangengehaltene österreichische Mädchen Natascha Kampusch hätte einen Entschädigungsanspruch - wenn das Verbrechen in Deutschland passiert wäre.

Versorgungsamt-Experte Kölling nennt das Beispiel der 76jährigen Elfriede Möller einen eher unspektakulären, jedoch "typischen Fall": "Die alte Dame erlitt beim Sturz einen Oberschenkel-Halsbruch. Die Polizei hat sie auf ihren Entschädigungsanspruch und das Versorgungsamt hingewiesen." Den weiteren Ablauf in diesem Fall beschreibt er so: "Wir prüfen den Antrag auf Entschädigung - ohne Antrag können wir nicht tätig werden - und zahlen vier Stunden Beratung in der Psychotraumatologischen Beratungsstelle, da die Frau sich erst mal wegen Angstgefühlen nicht mehr aus dem Haus traut. Die OP-Kosten im Krankenhaus übernehmen wir auch. Der ärztliche Dienst und das psychologische Gutachten haben in diesem Fall eine Beinverkürzung und eine ,posttraumatische Belastungsstörung' mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 Prozent attestiert. Diese Kennzahl wird auch bei nicht oder nicht mehr erwerbstätigen Menschen angewendet. Daraufhin zahlen wir eine Rente von 118 Euro monatlich."

Was hier als "typisch" dargestellt wird, ist in der Realität allerdings höchst ungewöhnlich. Denn das große Manko des Opferentschädigungsgesetzes ist: Fast keiner kennt es und daher kennen auch die wenigsten Opfer ihre Entschädigungsansprüche.

Das findet Veit Schiemann von der Opferhilfsorganisation "Weißer Ring" in Mainz "beschämend". In der geringen Bekanntheit des Gesetzes sieht er auch eine Erklärung für die klaffende Lücke zwischen der Zahl der Gewaltopfer und der Zahl der Anträge auf OEG-Leistungen. "Von etwa 200000 anspruchsberechtigten Kriminalitätsopfern im Jahr 2005 haben nur rund zehn Prozent bei den Versorgungsämtern einen Antrag auf Entschädigungsleistungen gestellt und nur etwa 11000, also knapp über fünf Prozent, erhalten Leistungen."

Veit Schiemann vom "Weißen Ring" kritisiert, daß die Täter oft mehr Aufmerksamkeit erführen als die Opfer. In den Medien etwa: Während über die Angehörigen der entführten und ermordeten Kinder Levke und Felix aus Norddeutschland kaum noch jemand redet, sorgt der Mörder Marc Hoffmann mit Revisionsverfahren beim Bundesgerichtshof für Schlagzeilen. Oder vor Gerichten: So dauerte es über 20 Jahre, bis einem kleinen Teil schwer betroffener Opfer (nur bei Sexualstraftaten und versuchter Tötung) ein Opferanwalt auf Staatskosten zugestanden wurde. Und erst im Jahr 2004 gestand der Gesetzgeber den Eltern ermordeter Kinder einen vom Staat bezahlten Opferanwalt zu. Täter dagegen erhalten seit jeher einen Pflichtverteidiger.

30 Jahre Opferhilfe

Am 24. September 1976 wurde der "Weiße Ring" als gemeinnütziger "Verein zur Unterstützung von Kriminalitätsopfern und zur Verhütung von Straftaten" ins Vereinsregister beim Amtsgericht Mainz eingetragen. Eines der 17 Gründungsmitglieder war Eduard Zimmermann, der langjährigen Leiter der ZDF-Sendung "Aktenzeichen XY".

Der "Weiße Ring" ist die einzige bundesweit tätige Opferschutzorganisation. Er bietet ein flächendeckendes Hilfsnetz mit 18 Landesbüros und 400 Außenstellen, in denen einige hauptamtliche sowie 2800 ehrenamtliche Helfer tätig sind. 60000 Mitglieder unterstützen den Verein, der sich aus Beiträgen, Spenden, Nachlässen und Zuweisungen von Bußgeldern (zum Beispiel bei Verkehrsdelikten) finanziert. Die Mitarbeiter begleiten Kriminalitätsopfer zu Polizeidienststellen und Gerichtsverhandlungen, helfen beim Antrag auf Leistungen nach dem "Opferentschädigungsgesetz" (OEG), vermitteln Anwälte für Straf- und Sozialgerichtsverfahren sowie Beratung und therapeutische Hilfe. Der "Weiße Ring" hilft Gewaltopfern vor allem durch menschliche Zuwendung. So haben diese das Gefühl, nicht allein zu sein.

Die wichtigsten Forderungen des "Weißen Rings" an den Gesetzgeber:

• staatlich bezahlte Opferanwälte für alle schutzbedürftigen Opfer

• Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche auch in Jugendstrafverfahren (nach dem Jugendstrafrecht verurteilte Täter brauchen nicht für Schadensersatz und Schmerzensgeld aufkommen)

• Informationspflicht der Behörden zum OEG und zum Gewaltschutzgesetz

• Zuweisung eines Teils der Geldstrafen an Opferschutz-Organisationen

• Opferschutz dem Täterschutz (Resozialisierung) gleichstellen

Das bundesweite Info-Telefon ist unter (0 18 03) 34 34 34 zu erreichen. (Siegfried Schmidtke)


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