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28.10.06 / "Richtig mit Liebhaben und so?" / Oft haben es die Kinder mit ihren Eltern nicht leicht

© Preußische Allgemeine Zeitung / 28. Oktober 2006

"Richtig mit Liebhaben und so?"
Oft haben es die Kinder mit ihren Eltern nicht leicht
von Gabriele Lins

Ihre Eltern stritten und hatten böse Gesichter. Anjas Magen zog sich schmerzlich zusammen. "Stellt euch vor", sagte sie gewollt fröhlich, "ich habe eine Eins im Aufsatz!"

Der Vater ging schweigend hinaus. Sie hörten, wie der Motor seines Autos aufheulte. Die Mutter hatte Tränen in den Augen. Da schlich das Mädchen auf sein Zimmer und warf sich aufs Bett. Die gute Note freute sie nun gar nicht mehr.

Am nächsten Morgen eröffnete Frau Singer, Anjas Lieblingslehrerin, ihrer Klasse, daß sie versetzt würde, an eine Schule, die in einem weit entfernten Stadtteil lag. Vor den Augen des Mädchens verschwammen die Gegenstände. ´Nur nicht weinen, dachte sie. Vater hatte schon oft gesagt, es wirke lächerlich, wenn man vor anderen heule. Aber bei Frau Singer durfte sie weinen. Wie durch einen Nebel ging sie nach Hause. Wenn ihre Lehrerin nicht mehr da war, würde sie sich heimatlos fühlen!

Schon vor der Haustür hörte sie laute Stimmen. Anja drehte sich um und rannte die Straße hinunter. Autofahrer hupten vorwurfsvoll - sie hörte es kaum. Erst am See hielt sie an, lehnte sich an den Stamm einer Weide und versuchte zu Atem zu kommen. Wie sollte sie weiter leben in dieser lieblosen Atmosphäre ihres Elternhauses? Und nun ging Frau Singer auch noch weg, die geliebte Lehrerin, die sie verstanden und gefördert hatte.

Ich bleibe hier sitzen bis in alle Ewigkeit, dachte Anja, bis ich gestorben bin. Nach Hause gehe ich nie mehr!

Es wurde immer später. Feucht krochen die Herbstnebel unter Anjas Sachen. Sie fröstelte. Aber sie blieb in ihrer starren Haltung sitzen. Wenn sie sich erkälten und sterben würde - egal. Wer brauchte sie denn? Niemand!

Vater und Mutter saßen an Anjas Bett. Ihre Gesichter sahen übernächtigt aus. Am Fußende stand Frau Singer. Anja bemerkte tiefe Falten in ihrem Gesicht. Sie faßte sich an die Stirn. Die war heiß. Sie überlegte, wo sie war.

"Wir haben dich vorsichtshalber gleich ins Krankenhaus gebracht", sagte die Mutter und streichelte Anjas Hand, "du hattest hohes Fieber." Der Vater ruckelte an seinem Schlips. Endlich hatte er den Knoten lose gefummelt und atmete aus. "Gut, daß mir dein Lieblingsplatz am See rechtzeitig einfiel. Wir haben großes Glück gehabt."

Frau Singer strich ihrer Schülerin sanft über das Gesicht. "Anja, was machst du für Sachen?" fragte sie vorwurfsvoll, aber das Mädchen spürte die Liebe und Sorge in ihren Worten.

Schließlich saß Anjas Mutter nur noch allein am Bett der Kranken. "Du", sagte sie eifrig und die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus, "stell dir bloß mal vor, meine Zeichnungen habe ich bei einem Verlag unterbringen können, für ein Kinderbuch. Und noch eins: Deine Klasse ist geschlossen zu irgendeinem Schulrat gegangen, und der hat versprochen, dafür zu sorgen, daß Frau Singer nicht versetzt wird. Sie bleibt euch also erhalten." Anjas Gesicht wurde schlagartig hell. "Ehrlich?"

Die Mutter nickte. "Kind, sag mal, bist du wegen unserer Streitereien nicht nach Hause gekommen?"

"Laßt ihr euch scheiden?" antwortete Anja mit einer Gegenfrage. Die Mutter schüttelte den Kopf. "Wir sind sehr verschieden, dein Vater und ich, aber wir bleiben zusammen, keine Sorge!"

Das Mädchen setzte sich mühsam auf. "Ihr versucht es also noch einmal miteinander?" Sie wurde rot. "Richtig mit Liebhaben und so? Ich habe noch nie gesehen, daß ihr euch umarmt habt."

Die Frau sah betreten drein. "Du hast es schwer mit uns, nicht wahr." Anja legte sich entspannt zurück und sagte halb im Einschlafen: "Ihr dürft euch nicht mehr so viel zanken, Mama. Kinder sind dann immer so traurig ..."


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