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09.12.06 / 84 und kein bißchen leise / Biedere Unternehmerin muß erfahren, daß ihr Vater eine Geliebte hat

© Preußische Allgemeine Zeitung / 09. Dezember 2006

84 und kein bißchen leise
Biedere Unternehmerin muß erfahren, daß ihr Vater eine Geliebte hat

Ruth Rothwax ist Jüdin, 54 Jahre alt und leitet in New York ihre eigene kleine Firma, einen gut florierenden Briefservice. Nebenbei kümmert sie sich um ihren anstrengenden, verwitweten 84jährigen Vater Edek. Bedauerlicherweise ist Ruth jedoch auch eine sehr neurotische Frau, deren Kontrollzwang sich nicht nur auf ihre Ernährung, sondern auch auf ihren Vater ausweitet, der sich jedoch darauf spezialisiert zu haben scheint, sich eben diesem immer wieder zu entziehen.

Als jedoch plötzlich die polnischen Bekannten, die schüchterne Walentyna und die robuste, vor Gesundheit strotzende Zofia auf der Bildfläche erscheinen und sich bei Edek einquartieren, gerät Ruths heil geglaubte Welt aus den Fugen. "Ruth hatte mehrere Nächte nicht mehr richtig geschlafen. Sie merkte, daß ihre Konzentration nachzulassen begann. Sie versank in Tagträume, wie sie Zofia und Walentyna loswerden könnte, statt über ihre Briefe nachzudenken."

Doch haben die beiden Damen ganz andere Pläne. Sie wollen in New York seßhaft werden, und Edek spielt, genau für Zofia, in dieser Beziehung eine ganz besondere Rolle, womit Ruth offensichtlich alles andere als klarzukommen scheint. ",Ihr Vater und ich, wir haben sehr guten Sex', sagte Zofia. Ruth fiel um ein Haar vom Stuhl. Wie waren sie vom Schwimmen zum Sex gekommen? Und zum Sex mit ihrem Vater? ,Wenn ich meine Beine um ihn schlinge, bin ich sehr glücklich. Und er ist auch sehr glücklich', sagte Zofia. Wenn sie ihre Beine um ihn schlang? Warum mußte Zofia ihr das erzählen? ... Daß man seine Beine um jemanden schlang, war ein sehr persönlicher Sachverhalt ... Ruth hatte in ihrem Leben noch nie darüber gesprochen, daß sie ihre Beine um etwas schlang, selbst wenn es nur ihre Bettdecke war. Sie war etwas verdattert."

Mit viel Humor und einer ordentlichen Prise Ironie erzählt die Autorin Lily Brett in "Chupze" die Geschichte von Vater und Tochter, die nach so vielen Jahren, die sie nebeneinander hergelebt haben, endlich wieder emotional zueinander finden.

Schnell steigt der Leser in das Geschehen des Romans ein und läßt sich überraschen von den waghalsigen Ideen der herzerfrischenden Zofia und dem verklemmten, aber sympathischen Charakter der ewig skeptischen Ruth.

Doch woher rühren eigentlich Ruths Neurosen wie zum Beispiel ihre Ablehnung gegenüber rotem Fleisch, dessen Anblick sie mit brennendem Fleisch assoziiert? Auch dafür hat der nie um eine Antwort verlegene Edek eine, wenn diesmal auch erstaunlich vernünftige Erklärung parat: ",Ich glaube, wenn Rooshka und ich nicht wären gebracht worden in das Ghetto und nach Auschwitz und wenn Ruthie wäre aufgewachsen in Polen, dann wäre alles leichter für sie.'"

Ein lustiger und sehr unterhaltsamer Roman mit ernstem Hintergrund. A. Ney

Lily Brett: "Chuzpe", Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, geb., 334 Seiten, 19,80 Euro, Best.-Nr. 5963


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