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09.12.06 / "Ich krolle nicht ..." / Vor 125 Jahren beschloß der Reichstag den Standort seines Neubaus

© Preußische Allgemeine Zeitung / 09. Dezember 2006

"Ich krolle nicht ..."
Vor 125 Jahren beschloß der Reichstag den Standort seines Neubaus
von Manuel Ruoff

Über lange Jahre war die Volksvertretung des Norddeutschen Bundes und später auch des Deutschen Reiches nur provisorisch untergebracht. Wenige Monate nach der Reichsgründung und der daraus folgenden Vergrößerung des Reichstages um die süddeutschen Abgeordneten, am 19. April 1871, beschloß das Parlament die Bildung einer Baukommission, zu deren Aufgaben unter anderem auch die Suche nach einem geeigneten Standort für das neu zu errichtende Reichstagsgebäude gehörte. Diese Reichstagsbaukommission setzte sich schließlich aus drei Vertretern der Länderkammer, des Bundesrates, sieben Reichstagsabgeordneten, zwei von der preußischen Regierung berufenen hohen Baubeamten und dem Polizeipräsidenten Lothar von Wurmb vom Berliner Magistrat zusammen.

Auf der Sitzung dieser Kommission vom 14. Juni 1871 wurde nach zwei Plätzen an der Königgrätzer Straße, dem Platz des preußischen Innenministeriums, einem Terrain zwischen dem Brandenburger Tor und dem späteren Reichstagsgebäude, einem Grundstückskomplex zwischen der Spree, der Herkulesbrücke und dem Schloß Monbijou, dem Gelände, auf dem der Marstall stand und dem Platz der Artilleriekaserne am Kupfergraben schließlich auch die Ostseite des damals noch Königsplatz heißenden heutigen Platzes der Republik als Standort für den Neubau vorgeschlagen. Drei Tage später entschied sich die Kommission ohne vorherige Diskussion für diesen letztgenannten, achten Vorschlag.

Ungünstigerweise stand auf diesem Grundstück bereits ein Gebäude, das Palais Raczynski. Unglücklich war es auch, daß der Besitzer dieses Palais von der Entscheidung der Kommission nicht etwa von selbiger, sondern aus der Presse erfuhr, was ihn zusätzlich erzürnte. Der aus Polen stammende preußische Diplomat, Kunstsammler und Kunsthistoriker Athanasius Graf Raczynski war nicht gewillt, sein Lebenswerk einem Neubau zu opfern, und er hatte im Kampf mit der Reichstagsbaukommission keine schlechten Karten.

Nachdem auf der Westseite des Königsplatzes bereits das Etablissements Kroll stand - in dem Jahrzehnte später während der NS-Zeit nach dem Reichstagsbrand der Reichstag untergebracht werden sollte -, war aus städtebaulichen Gründen schon lange, bevor es den Reichstag gab, eine repräsentative Bebauung der Ostseite als Kontrapunkt erwünscht gewesen. Aus diesem Grunde war dem verdienten Preußen für seine Kunstsammlung per königlicher Kabinettsorder vom 30. März 1842 dieses Grundstück in Aussicht gestellt worden. Gemäß einem Vertrag vom 19. Mai 1847 durften Raczynski und seine späteren Erben es so lange nutzen, bis sie mehr als ein Drittel der Kunstwerke veräußerten oder aus der Galerie entfernten. Solange sie letzteres nicht taten, durfte der Staat die hier zwischen 1844 und 1847 entstehende Villa weder räumen lassen noch gar abbrechen. Die Voraussetzungen für ein derartiges Eingreifen des Staates erfüllte Raczynski jedoch nicht einmal in Ansätzen.

Nachdem trotz entsprechenden Druckes seitens des Reichstages ein Abbruch des Palais Raczynski mehr als schwierig schien, brachte die Reichsregierung auf Betreiben des Kaisers mit Vehemenz einen alternativen Standort ins Spiel, den auf der anderen Seite des Königsplatzes gelegenen Standort des Etablissements Kroll. Dieser Vorschlag wurde jedoch vom Reichstag in namentlicher Abstimmung am 19. Mai 1873 mit 152 gegen 87 Stimmen abgelehnt.

Die Standortfrage wurde wieder an die Reichstagsbaukommission verwiesen. 56 mögliche Bauplätze nahm sie ins Visier, um schließlich "die Erklärung auszusprechen, daß sie nach eingehender Erwägung aller in Betracht kommenden Verhältnisse und in Rücksicht auf die großen Bedenken, welche sich der Erwerbung eines anderen geeigneten Bauplatzes für das Parlamentsgebäude entgegenstellen, in erster Linie das früher bereits vorgeschlagene Kroll'sche Etablissement auch jetzt noch für den vorliegenden Zweck als am geeignetsten ansieht".

Am 25. Februar 1874 wurde diese Empfehlung der Reichstagsbaukommission im Reichstagsplenum debattiert. Seitens der Gegner wurde wie folgt argumentiert: "Jeder von Ihnen ist wohl schon an häßlichen kalten Winterabenden nach Kroll gegangen und zurück. Wenn man das einmal tut, dann kann's gehen und die Unannehmlichkeit ist zu tragen; aber jeden Abend hingehen während der Session und im Winter und vielleicht während 24 Stunden zwei-, dreimal und um Mitternacht zurück, im Schnee und Eis, das ist etwas ganz anderes." Die Argumentation schien zu fruchten - jedenfalls sprach sich im Reichstagsplenum abermals mit 130 gegen 120 Stimmen eine Mehrheit gegen Kroll aus.

Wenn es auch seitens des Reichstages hieß: "Ich krolle nicht, und wenn das Herz auch bricht", hielt Wilhelm I. doch unbeirrt an seinem Vorschlag fest. In einem Schreiben an seinen Ministerpräsidenten vom 23. November 1875 argumentierte der König: "Es ist so viel über den ... Bauplatz gesprochen, discutirt, geplant etc. worden, daß meiner Ansicht nach nur der Kroll'sche Platz zu wählen übrig bleibt, dem doch eigentlich nur der gefürchtete Schnupfen einiger fränkischer Deputirter entgegensteht, den man sich auf dem Wege vom Brandenburger Thor zum Parlamentsgebäude zuziehen könne, aber nicht muß, und dem man durch eine Droschke oder einen guten Paletot sehr gut begegnen kann, ganz abgesehen davon, daß jene Fürsorge für später zu Verschnupfende doch sehr weit ginge, wenn man auf diese Fürsorge eingehen wollte." Wilhelm ersuchte Otto Fürst von Bismarck "daher nun allen Ernstes, die Angelegenheit schnell in die Hand zu nehmen, was auch noch einen anderen Grund für sich hat, daß nämlich eine Menge unbeschäftigter Arbeiter Berlins und auch auswärts den schweren Winter leichter hinnehmen würde, wenn sie zum Frühjahr einer großen dauernden Beschäftigung entgegensehen würden".

Der weise Bismarck war von Wilhelms Argumentation nicht überzeugt, aber ihm war die Frage zu unwichtig, als daß er es deswegen zu einer Kraftprobe mit seinem Herren hätte kommen lassen. Er zählte gegenüber dem König korrekterweise seine Bedenken gegen das doch recht weit im Westen liegende Kroll auf wie fehlendes Quartier für die Abgeordneten und zu große Entfernung zum Regierungsviertel, doch tat er wie ihm geheißen und agierte in Wilhelms Sinne.

Im Januar 1876 passierte eine entsprechende Vorlage Preußens den preußisch dominierten Bundesrat. So war der Reichstag am 5. Februar 1876 abermals mit dem Vorschlag Kroll konfrontiert, diesmal in der Form eines Antrages des Bundesstaates Preußen. Und wieder wurde seitens der Gegner mit der Bequemlichkeit argumentiert. Nach sechsstündiger Debatte vertagte man sich, um dann am 7. Februar die Entscheidung zu fällen. Abermals verfehlte der Kroll-Vorschlag die Mehrheit.

Mit etwas Verzögerung brachte der Tod von Athanasius Graf Raczynski Bewegung in die Standortdiskussion. Im Gegensatz zu ihm hing sein Sohn und Erbe Carl Eduard Nalecz von Raczynski nämlich nicht an der Villa und war zu deren Aufgabe bereit. Nachdem der Sohn erst drei Millionen Mark gefordert hatte, einigten er und die Reichsregierung sich schließlich auf 1,1 Millionen Mark. Um genau dieses zu verhindern, hatte der Vater testamentarisch verfügt, daß sein Palais unverkäuflich sei, doch Sohn und Reich waren schlauer. Die Einigung sah nämlich vor, daß das Reich das Gebäude nicht kaufte, sondern es gegen Entschädigung enteignete. Diese Enteignung wäre zwar rechtlich anfechtbar, aber da sie aufgrund der Entschädigung im Sinne des Sohnes war, hätte es keinen Kläger gegeben und damit keinen Richter, der sie hätte rückgängig machen können. Der Sohn hätte das Geld, der Staat das Grundstück, und der Vater wäre der ausgetrickste Dritte. Ein entsprechender Vertragsentwurf mit Datum vom 15. März 1879 wurde zeitnah in der Presse veröffentlicht. Nun bedurfte es nur noch der Zustimmung des Reichstages. Doch der zierte sich unerwartet.

Innerhalb und auch außerhalb des Parlaments wurde jetzt als Gegenvorschlag der an der Nordseite des Königsplatzes gelegene Alsenplatz präsentiert. Am 3. Mai 1879 faßte Stadtbaurat Hermann Blankenstein die angeblichen Nachteile der Ost- gegenüber der Nordseite des Königsplatzes in einem Brief an das "Wochenblatt für Architekten und Ingenieure" zusammen: "Die Raczynskische Gebäudegruppe, eine Lieblingsschöpfung des kunstsinnigen Königs Friedrich Wilhelm IV. und eins der frühsten Meisterwerke unsres Stracks, nimmt ... einen hervorragenden Rang in der Architektur Berlins ein und gereicht seinem Platz zur hohen Zierde. Eine solche Gruppe sollte man ohne die zwingendsten Gründe nicht zerstören, und solche liegen um so weniger vor, als der dadurch zu gewinnende Platz für den beabsichtigten Zweck sehr schlecht gelegen ist. - Man würde nämlich nicht umhin können, die Hauptfront des Gebäudes am Königsplatz zu errichten, während Berlin und die Wohnungen der Reichstagsmitglieder auf der entgegengesetzten Seite liegen. Da man aber Niemandem zumuthen kann, der blossen Monumentalität wegen um das Gebäude herumzugehen, so wird irgend ein untergeordneter Eingang der wirklich benutzte werden und Berlin wird wieder um ein Gebäude bereichert mit einem grossartig angelegten Treppen- und Portalbau, welchen Niemand betritt." Zudem zog Blankenstein es in Zweifel, daß es mit den 1,1 Millionen Mark getan sei, da das Grundstück nicht ausreichen würde. Mit der deshalb nötigen Arrondierung des Bauplatzes käme man vielmehr auf zehn bis zwölf Millionen Mark. Am 26. Juni und 10. Juli 1879 kam es schließlich im Reichstag zur großen Debatte um die Standortfrage, und das Unerwartete geschah: Das Parlament lehnte den Vertragsentwurf zwischen dem Reich und Raczynski ab und forderte die Regierung auf, die Möglichkeiten eines Neubaus an der Nordseite des Königsplatzes zu sondieren.

Langsam wurde es Bismarck leid, und er gab den Abgeordneten einen Schuß vor den Bug. Der Reichskanzler dachte in der Reichstagssitzung vom 15. März 1881 laut über die Verlegung von Regierung und Parlament in eine andere Stadt nach. Für die Begriffsstutzigen legte er am 29. April noch einmal nach: "Die politischen Nachtheile, die mit dem Tagen des Reichstags in Berlin verknüpft sind, auseinanderzusetzen, dazu würde ich von der Sache noch weiter abweichen müssen wie die Vorredner. Sie bestehen, kann ich hier nur sagen, nicht bloß in der äußerlichen Gefährdung der höchsten Behörden und des Reichstags, sondern noch mehr in dem Einfluß, welchen das Tagen an einem Ort von mehr als einer Million Bevölkerung schließlich durch die Bequemlichkeit, hier zu wohnen, auf die Wahlen, also auf die Zusammensetzung des Reichstags übt, welche aufhört, die Zusammensetzung des Volkes richtig wiederzugeben, - ich berührte dies nur obiter - wir haben jetzt zu viel Berliner im Reichstage, und es ist ja auch natürlich, denn sie brauchen keine Reise zu machen und brauchen sich ihrer sonstigen Beschäftigung nicht zu entziehen ..."

Und die Kritisierten hatten verstanden - und versuchten Berlin als Parlamentssitz buchstäblich zu zementieren. Noch im selben Jahr, am 13. Dezember 1881 gegen 15.45 Uhr, stimmte der Reichstag ohne namentliche Abstimmung mit einfacher Mehrheit für den Abschluß des Vertrages zwischen Reich und Raczynski. Die Entscheidung über den Standort des neuen Reichstagsgebäudes war gefallen.

Foto: Palais Raczynski: Seine Existenz erschwerte die Suche nach einem Standort für das neue Reichstagsgebäude sehr.


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