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16.12.06 / Sind wir denn alle im Aufschwung?

© Preußische Allgemeine Zeitung / 16. Dezember 2006

"Moment mal!"
Sind wir denn alle im Aufschwung?
von Klaus Rainer Röhl

Jetzt ist die Zeit gekommen. Wo seit Wochen in den Supermärkten unaufhörlich "Stille Nacht" und "O du fröhliche" gespielt werden, in einer Endlosschleife, unterbrochen nur durch die Durchsage, daß es nur hier die guten deutschen Weihnachtsgänse auf Vorbestellung gibt und die saftigen Lammkeulen, direkt vom Erzeuger. Im Radio und im Fernsehen gibt es dafür überhaupt keine deutschen Weihnachtslieder. Da dudeln pausenlos die "Jingle Bells" auf allen Kanälen, rauschen zuckersüße Weihnachtsengel mit Parfum-Paketen und grotesk-komische Weihnachtsmänner auf original Rentierschlitten, die die neuesten Laptops oder DVD-Player im Gepäck haben. Darauf einen Rotkäppchen-Sekt. Es geht aufwärts mit Deutschland. Bloß den Aufschwung nicht zerreden!

An den Wochenenden kommt jetzt die Zeit der großen Wohltätigkeits-Galas. Notfalls auch noch Donnerstag und Freitag. Die berühmten Sänger singen kostenlos für die Straßenkinder von Dafur oder Kalkutta. Das Fernsehen überträgt kostenlos ihren neuen Song, der nichts mit den Straßenkindern zu tun hat, in der besten Sendezeit, manchmal sogar über Euro-Vision. Europaweit. Die heimatlosen Straßenkinder können Sie in Großaufnahme sehen, total verwahrlost und halb verhungert. Fliegen sitzen auf ihren Gesichtern. 45 Grad. Als Adoptivkinder unbedingt zu empfehlen. Sie werden vermutlich inzwischen gestorben sein, der Film ist im Sommer gedreht worden. Nächste Woche kommt eine Gala direkt aus Berlin über die Armut in Brasilien, direkt aus dem großen Sendesaal, es singt Nicole und ein Kinderchor aus brasilianischen Straßenkindern, es folgt die "Tagesschau".

Das meiste, was unsere Koalition vor Weihnachten verlautbart und was die Zeitungen, Funk- und Fernsehstationen kritisch solidarisch nachkäuen, kommt mir in diesen Tagen hergeholt vor, läppisch-unwichtig, fast fahrlässig gegenüber den wirklichen Ängsten der Menschen in unserem Land. Haben wir keine anderen Probleme? Sind wir alle im Aufschwung? Haben wir nicht fünf Millionen Klein- und Kleinstrentner direkt an der Armutsgrenze? Und fünf Millionen Hartz-IV-Empfänger unterhalb der Armutsgrenze? 10,5 Millionen "Armutsgefährdete" nach der letzten Untersuchung vom 5. Dezember 2005. Was unterscheidet das Elend in Kalkutta und Darfur und Brasilien von dem Elend in Köln-Nippes, in Magdeburg und Frankfurt an der Oder? Daß es vor unserer eigenen Tür stattfindet und keine Fernseh-Gala der Armut von zwölf Prozent der deutschen Bevölkerung abhelfen kann. Diese Armen werden mehr, und ihre Lage wird mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit und des elenden Hartz-IV-Minimums immer schlechter. Das wäre Chefsache: Wir haben in unserem eigenen Land, im einstigen Wirtschaftswunderland Deutschland, eine massenhafte und massive Armut, besonders spürbar vor Weihnachten. Denn Armut von Familien oder alleinstehenden Müttern ist auch Kinderarmut. Konsumiert mehr, damit der Aufschwung läuft. Fünf Millionen Kleinrentner und ebenso viele Hartz-IV-Empfänger werden nichts konsumieren. Wie sollten sie auch? Wenn sie 345 Euro im Monat (für Alleinstehende) erhalten. Und das auch nur nach umfangreichen Prüfungen und Belegen, daß sie auch nirgends mehr irgendwo eine pfändbare Versicherung, ein Häuschen oder eine Eigentumswohnung über eine bestimmte Größe oder etwas Erspartes für die Kinder - oder das Alter haben. Das Hartz-IV-Gesetz ist von einem ausgeschlafenen Despoten gemacht worden, der seine Untertanen ruhigstellen und verhindern wollte, daß sie alle zusammen auf die Straße gehen. Überall sind Ausnahmen eingebaut. Für Eigentumswohnungen und Eigenheime, oft in Jahrzehnten zusammengekratzt und abbezahlt, gelten Begrenzungen in der Quadratmeterzahl. Darüber hinaus muß das Haus verkauft werden. Lebensversicherungen sind bis auf 16250 Euro aufzulösen. Vom Ersparten darf man 250 Euro pro Lebensjahr behalten, von weiterem Vermögen 150 Euro pro Lebensjahr. Ein Pkw bis zu einem Wert von 5000 Euro (Wiederverkaufswert) darf ein arbeitsfähiges Mitglied der Familie behalten. Der Anwärter auf Hartz-IV ist der gläserne Mensch, der Albtraum der Zukunftsromane. Alles, was bei der Prüfung jenseits der oben genannten Beträge registriert wurde, muß erst einmal verkauft oder aufgelöst oder verbraucht werden, bevor die Auszahlung beginnt. Erst dann, und auch nur dann, wenn die Hartz-IV-Empfänger sozusagen nichts mehr haben, als das, was sie auf dem Leib tragen und in ihrer Wohnung unentbehrlich ist, erhalten sie bis zu über 856 Euro (Alleinstehende). Das Geld erhalten Sie übrigens nicht als Geschenk von Frau Merkel, Herrn Müntefering oder dem Leiter des Sozialamts, sondern aus unserer, von allen bezahlten gemeinsamen Kasse, der des Staates für Notfälle, dem Sozialhilfeetat. Mit 95 Milliarden Euro ist der Sozialetat der größte Einzeletat Deutschlands, gefolgt vom Verteidigungsetat, den wir zur Verteidigung unseres Landes im Kongo, in Afghanistan, im Kosovo und an der Küste des Libanon so dringend brauchen.

Keine Fernseh-Gala schildert das Leben der Armen in der Bundesrepublik und ihrer Kinder. Warum? Wahrscheinlich, weil es das schöne Spiel der Schlager und der Sänger verderben würde. Wie stellen wir uns das Leben unterhalb des Existenz-Minimums vor? Die meisten sollen es gar nicht so genau wissen. Experten, hochbezahlt, haben ausgerechnet, daß 856 Euro zum Leben reichen. Beim Einkauf der notwendigsten Lebensmittel bei Aldi und Lidl. Notfalls gibt es auch ein warmes Essen in der Armenküche, heute einigermaßen zynisch "Tafel" genannt, wo die Armen also "tafeln" können für einen Unkostenbeitrag und auch noch ein paar Lebensmittel dazubekommen, deren Verfallsdatum fast abgelaufen ist, und die die freiwilligen Helfer der Sozialstationen täglich bei den großen Lebensmittelketten abholen. Keiner muß in Deutschland hungern. Frieren schon eher. Obwohl es auch Heizkostenzuschüsse gibt, knapp bemessen und auf Antrag.

Wenn aber die Waschmaschine kaputtgeht und vielleicht auch noch das klöterige Auto, mit seinem erlaubten Wiederverkaufswert von 5000 Euro, kaputt ist, was dann? Mit dem Bus oder dem Fahrrad geht es doch auch, sagt der Mann vom Sozialamt, oder? Was soll der Kleinrentner oder Hartz-IV-Empfänger darauf antworten? Den "Betreuer" darf er auf keinen Fall verärgern. Für jede Sonderausgabe muß er einen Antrag stellen. Es gibt warme Kleidung und notfalls auch eine Waschmaschine auf Antrag. Das Existenzminimum ist sichergestellt, haben Experten errechnet. Die Experten des Statistischen Bundesamts in Wiesbaden verdienen im Monat, vorsichtig geschätzt, 6000 Euro. Sie haben nicht die Phantasie (sie können sie nicht haben), sich vorzustellen, was passiert, wenn die alleinerziehende Mutter zweier Kinder oder der Kleinrentner einmal eine Rate der Telefonrechnung nicht bezahlen kann und ins Minus gerät. Fast alle Armen sind lange im Minus und reihen sich ein in die Zahl der Millionen Überschuldeten. Woher sollen sie die Abzahlungsraten nehmen, die vielleicht noch vereinbart werden können?

Von den Armen erwartete man schon im Märchen, vor 200 Jahren gesammelt und leicht geschönt von den Brüdern Grimm, daß sie brav sind, arm, aber ehrlich. Arme Leute kommen oft in den Märchen vor, sie sind sogar "bitterarm", "bettelarm", haben nichts mehr zu beißen oder zu brechen, eine kollektive Erinnerung an die Hungersnöte, Dürren und den 30jährigen Krieg. Aber sie sind brave "rechtschaffene" Leute, die nicht saufen, nicht stehlen und nicht Schulden machen. Das erwartet man auch von unseren Armen. Von den Inhabern hoher, gut bezahlter Regierungsposten erwarten wir auch, daß sie rechtschaffen sind. So rechtschaffen wie Dr. Peter Hartz, der Schöpfer der Schröpfung. Und von unserer Kanzlerin erwarten wir, daß sie das Problem der Armen in Deutschland zum Thema macht. Die 10,6 Millionen Armutgefährdeten werden beim nächsten Mal nicht die CDU wählen. Das ist sicher. Ihr sollt nicht gut sein, sondern nur vernünftig. Angela, übernehmen Sie! Chefsache: Armes Deutschland!

Foto: Singen für "Brot für die Welt": Vicky Leandros bei einer ZDF-Spendengala zur Weihnachtszeit (pa)


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