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16.12.06 / So Einer sich erbarmet / Eine Geschichte um das Elend der Flüchtlinge, um Hoffnung, Tod und Verderben

© Preußische Allgemeine Zeitung / 16. Dezember 2006

So Einer sich erbarmet
Eine Geschichte um das Elend der Flüchtlinge, um Hoffnung, Tod und Verderben
von Margarete Kudnig

Als der alte Kämmerer im Jahre des Schreckens seine Heimat verließ und sich zum zweitenmal in seinem Leben, diesmal zusammen mit der Enkeltochter und ihrem neugeborenen Kind, auf die Flucht begab, da war er zeitweise schon ein wenig verwirrt im Geiste. Er hätte vielleicht auch nie das große Wagnis auf sich genommen, wäre nicht der versprengte Soldat gekommen und hätte so eilig darauf gedrängt, das Pferdchen endlich vor den bereits gepackten Wagen zu spannen, und er werde ihnen schon helfen, so sagte er. "Wie können Sie uns wohl helfen?" hatte der Kämmerer gemeint, "wo Sie selbst so schwer verwundet sind!"

Aber der Soldat hatte nur bitter gelacht und kein Hehl daraus gemacht, daß es mit dem blutigen Kopfverband so seine eigene Bewandtnis habe. "Laß man, Alterchen", hatte er gesagt, "das verstehst du nicht!" Und von da an waren sie wie eine Familie. Der Soldat war rührend besorgt um den zittrigen alten Mann und die junge Frau und ängstlich behutsam mit dem Kind, als wäre er nicht durch die langen rauhen Kriegsjahre hindurch gegangen.

So waren sie ein Teil geworden des großen Flüchtlingszuges durch Eis und Schnee und über die Ströme hinweg und waren schließlich mit zerbrochenem Wagenrad und dem völlig ermatteten Pferd irgendwo an der Landstraße liegengeblieben. In einer leeren Kate hatten sie Unterschlupf gesucht für die Nacht. Der Soldat hatte ein Feuer angemacht auf dem offenen Herd und war auf Kundschaft ausgegangen. Vielleicht fand sich irgendwo ein heiles Rad oder ein besseres Pferd oder sonst ein Helfer in der Not.

Die junge Frau hatte das Kind versorgt und saß nun geruhsam, es zu nähren. Der Alte hockte neben ihr, ein wenig erschöpft, aber still und gelassen. Er schaute in die Glut, als wäre alles Gegenwärtige schon wieder weit von ihm abgerückt. Das schützende Dach über dem Kopf, die wohlige Wärme und das tröstliche Licht des Feuers, dazu die rührend zarten, behaglichen Laute des trinkenden Kindes, dies alles schuf um die Heimatlosen ein wundersames Gefühl der Geborgenheit. Hin und wieder stand der Alte auf, holte Holz oder ging an die Tür, nach dem Soldaten Ausschau zu halten. Vielleicht hatte er den getreuen Begleiter aber auch schon wieder vergessen? Man wußte bei ihm nie, war es das Vergangene oder das Zukünftige, das ihn bewegte.

"Es hat geschneit und ist nun aufgeklart", sagte er, "der große Wagen steht überm Haus. Bald wird Weihnachten sein, Tochterchen!"

"Ach Großvater", sagte die Frau, "Weihnachten, das ist doch schon lange vorbei und wer weiß, ob wir das Fest noch einmal erleben ...! Sloap, min Kindke, kleene", summte sie vor sich hin.

"Ja, ja, ich werd ihn schon wiegen, deinen Kleinen", sagte der Kämmerer und zog das Tuch dichter um ihre Schultern. Dann hockte er sich wieder nieder, wickelte sich in den grauen Woi-lach und stützte sich schwer auf den eichenen Stock, den er noch von zu Hause mitgenommen hatte. Seine Augen waren unentwegt auf die dunkle Tür gerichtet, die in die Welt nach draußen führte. "Schlaf man, Jungchen", sagte er, "wenn du groß bist, sollst bei mir das Reiten lernen!" und ein andermal: "Schlaf, mein Jungchen, wenn du groß bist, sind wir wieder zu Haus und dann darf kein Krieg mehr sein ..."

"Ja, Großvater - nein, Großvater!" sagte die Frau und wußte nicht, wie sie ihm sonst auf seinen Gedankengängen folgen sollte.

"Bald ist Weihnachten, Tochterchen", hub er wieder an. "Der Stern steht überm Haus, und sie werden uns schon finden, die Hirten!"

"Ja, Großvater", erwiderte die Frau und dachte im Augenblick nur, wie gut es sei, daß dem zarten Kind, das ihr noch immer wie ein Wunder Gottes im Schoß lag, in allem Elend doch die Wärme ihres mütterlichen Leibes und der strömende Quell ihrer Brust geblieben war. Was da draußen war, jenseits der dunklen Tür, das lag in dieser Stunde wohliger Erschöpfung ganz fern. So hörte sie auch nicht das Geräusch der sich nähernden Panzerketten und schaute nur ein wenig verwundert auf, als die Tür laut und hastig aufgerissen wurde und nicht so behutsam, wie sie es von ihrem Begleiter gewohnt war. Im Strahl der von hinten aufblitzenden Scheinwerfer standen zwei Soldaten, die blinkenden Waffen in der Hand. Die Frau schloß ihre Arme enger um das Kind. Der Alte aber schreckte auf aus seiner Versunkenheit. Taumelnd von der allzu raschen Bewegung, die Augen von dem weißen Licht geblendet, fürchtend, staunend, bewundernd, stammelte er: "Die Könige! Die Könige aus dem Morgenland!" Doch wie er sich neigte, sie ehrerbietig zu grüßen, sackte er immer mehr in sich zusammen und sank zu Boden, als kniete er schützend vor dem holdseligen Kind.

"Großchen, was ist?" rief die erschreckte Frau. Sie suchte ihn mit ihrer freien Hand zu stützen und erkannte zugleich unter den rauhen Pelzmützen die breiten fremden Gesichter und die feindliche Gefahr.

Manchmal reicht ein Menschenleben, ja, eine Kette von Erdenleben nicht aus, um eine verdüsterte Seele ins Licht zu heben. Und manchmal genügt der Blick einer Sekunde und eines Herzschlags kurze Dauer, um eine haßerfüllte Kreatur in die Knie zu zwingen und fromm und gut zu machen wie ein Kind.

Die fremden Soldaten hatten die hilflose Lage der Flüchtlinge wohl erfaßt. Sie sahen das aufleuchtende Weiß der entblößten Brust, das zarte junge Gesicht und die großen dunkelnden Augen. Sie sahen aber auch das Kind im Schoß der Mutter, sahen den alten Mann, der helfen wollte und nicht mehr helfen konnte. Sei es nun, daß sie eine Ahnung hatten von dem geweihten Geheimnis der weihnachtlichen Geburt, sei es, daß es die Heiligkeit allen Lebens war, die sich ihnen in dieser Stunde offenbarte - sie standen wie gebannt und ließen die Waffen sinken.

"Nix, Frau, nix", sagte der eine und hob beschwichtigend die Hand. Er nahm das dunkle Tuch und legte es wieder über die Schultern der wie erstarrten jungen Mutter. "Alles gutt, serr gutt!" sagte er. Der andere beugte sich über den alten Mann, legte seine Hand auf das stille Herz und sagte tröstend, um die Wahrheit zu verbergen: "Alter Mann schläft, alles gutt, serr gutt!"

Was sonst noch geschehen ist in dieser Nacht? Die beiden Fremden wechselten ein paar unverständliche Worte, und einer ging hinaus, wohl um Brot und Fleisch zu holen und vielleicht auch ein wenig stärkenden Wodka, denn der ist in allen Lebenslagen gut. Der andere legte neues Holz auf die verlöschende Glut und strich behutsam über den Saum der groben Decke, damit die Frau nicht mehr so bange und entsetzte Augen mache. Und indem er sich so niederbeugte, trat durch die hintere Tür der deutsche Soldat in den Raum. Im Nu erkannte er die vermeintliche Gefahr, und obwohl er allen nutzlosen Blutvergießens so müde war, hob er seine Waffe und ließ sie niedersausen auf den hilflosen und doch so hilfreichen fremden Mann.

Was sonst noch geschehen ist? Es kam der Kamerad mit lachendem Gesicht, bepackt mit seinen guten Gaben. Wie hießt es noch im alten Lied? "Sie bringen Weyrauch, Myrrhen und Gold zum Opfer dar dem Knäblein hold!"

Aber der Zauber der weihnachtlichen Nacht war gebrochen. Wieder herrschten Willkür und Gewalt, wo eben noch die Macht der allerbarmenden Liebe die Gemüter verwandelt hatte. Es ist gleich, wer da fiel, Freund oder Feind. Ob die Frau mit dem Kind die rettende Zuflucht erreichte, es ist gleich. Wenn sich nur Einer erbarmet und immer wieder erbarmet, auf daß die Verheißung sich erfülle und Frieden werde in dieser Welt!


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