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23.12.06 / Rings um Europa ist Wildnis / Wie Wunsch und Wirklichkeit Reisende frustrieren

© Preußische Allgemeine Zeitung / 23. Dezember 2006

Rings um Europa ist Wildnis
Wie Wunsch und Wirklichkeit Reisende frustrieren
von Klaus J. Groth

Das Ziel der weiten Reise möchte sein, in das ferne Land zu gelangen; das ist aber schwer, schwerer als sich einer denkt. Überall ist für einen das Schiff, das ihn hält, das alte Europa, dem er zu entkommen vergeblich strebt", notierte Adalbert von Chamisso in das Tagebuch seiner Weltumseglung 1815 bis 1818. An Bord erhalte sich für den Reisenden das alte Europa, "wo die alten Gesichter die alte Sprache sprechen, wo Tee und Kaffee nach hergebrachter Weise zu bestimmten Stunden getrunken werden ... Solange er vom fremden Boden noch die Wimpel seines Schiffes wehen sieht, hält ihn der Gesichtsstrahl an die alte Scholle festgespannt."

Chamisso war ein empfindsamer Betrachter der Welt, und er löste sich doch schwer von der eingeübten Weise, das Gesehene zu ordnen. Er hat das Problem immerhin erkannt, und das unterscheidet ihn von vielen Reisenden vor und nach ihm. Denn betrachtet man die in Jahrhunderten zur Flut gewachsenen Berichte von fremden Ländern und Menschen, so begegnet man unausweichlich den Mißverständnissen und Vorurteilen über die Welt. Früh ausgesät, tragen sie Früchte bis heute.

"Wir sehen nicht, sondern wir erschaffen uns Bilder." Die Zeitgenossen Johann Gottfried Herders, der dies feststellte, hatten damit wenig Sorgen. Mit sicherer Selbstverständlichkeit dachte und machte sich das reisende Europa bis ins 19. Jahrhundert zum Mittelpunkt der Erde und setzte die Maßstäbe: Ringsum war Wildnis.

Jede Reise beginnt mit Erwartungen, die sich selten erfüllen. Niemand ist dagegen gefeit, auch Goethe nicht. In seiner "Italienischen Reise" schreibt er: "Jeder denckt doch eigentlich für sein Geld auf der Reise zu genießen. Er erwartet alle Gegenstände, von denen er so vieles hat reden hören, nicht zu finden, wie der Himmel und die Umstände es wollen, sondern so rein wie sie in seiner Imagination stehen und fast nichts findet er so, fast nichts kann er so genießen. Hier ist was zerstört, hier was angekleckert, hier stinckts, hier rauchts, hier ist Schmutz pp, so in den Wirtshäusern, mit den Menschen pp." Um so mehr wirkt sich dies aus, wenn in den Informationen über diesen oder jenen Ort die Banalitäten und die gewöhnlichen Unzulänglichkeiten verschwiegen werden - weil die Berichterstatter ihren eigenen Irrtum nicht eingestehen wollen. So entwickeln sich Reiseziele zu Reisemythen.

Ein Beispiel für einen solchen Mythos ist Jerusalem, überfrachtet mit Emotionen und Wunschbildern. Wie unterschiedlich die geprägt sind, belegen Zeugnisse aus verschiedenen Epochen. "Das Grab hat die Eigenschaft, daß, wenn einer hineingeht, sei er Türk oder Christ, so bricht ihm der Angstschweiß aus, und kommt einem ein Grausen oder eine Furcht an. Darob die Türken gleichwohl erschrecken, und wollen doch nicht an Christum, den Herrn, glauben", schreibt Johann Wild 1613 in seiner "Reysebeschreibung eines Gefangenen Christen Anno 1604". Ida Pfeiffer sagt in dem Buch "Reise einer Wienerin in das Heilige Land", das 1844 entstanden ist: "Gerade als die Morgenröte anbrach, standen wir an den Mauern Jerusalems, und mir ging der schönste Morgen meines Lebens auf! Ich war so in Gedanken und in Lobpreisungen versunken, daß ich nicht sah und hörte, was um mich vorging. Und dennoch wäre es mir nicht möglich zu sagen, was ich alles dachte, was ich alles fühlte. Zu groß und zu mächtig war mein Gefühl, zu arm und kalt meine Sprache, es auszudrücken."

Ganz anders sieht es - fast zeitgleich mit Ida Pfeiffer - der welterfahrene Hermann Fürst Pückler-Muskau: "Die Stadt selbst ist so schmutzig und elend wie fast alle orientalischen Städte, und ihre Bevölkerung von Juden, Türken und Mönchen diesem Charakter sehr entsprechend. Ich muß bekennen, der Eindruck des Ganzen, Gegend, Stadt und Menschen, je mehr ich sie kennenlernte, war von der Art, daß es mir einigermaßen schwer wurde, mich in der vollen Höhe jener heiligen Stimmung zu erhalten, die doch einem christlichen Pilger, auf diesem geweihten Boden stehend, so natürlich ist." Und ebenso abschätzig äußert sich der bayerische Kronprinz Rupprecht: "Mein erster Gang in Jerusalem galt der Grabeskirche. Daß ihre bauliche Ausgestaltung und innere Ausstattung der Erhabenheit der mit ihr verknüpften Erinnerungen nicht entspricht, ... ist Schuld der orientalischen Schismatiker. Abgesehen von wenigen Architekturresten aus der Kreuzfahrerzeit ist so gut wie gar nichts in der Grabeskirche, was ein künstlerisch geschultes Auge befriedigen kann. Es herrscht ein Überfluß an silbernen Leuchtern und Ampeln, aber man tut gut, sie nicht näher zu besichtigen, ebenso wie die griechischen und russischen Ikonen, die Heiligenbilder, die aus getriebenem Silber bestehen, in das die auf Holz gemalten Gesichter und Hände eingefügt sind. Geradezu barbarisch ist die Dekoration der armenischen und koptischen Kapellen."

Reisende und Religion, das ist ein besonders schwieriges Feld der Erfahrung. Darum ist die Annäherung an einen anderen - und somit zwangsläufig "falschen" - Glauben die problematischste Begegnung schlechthin. Ängstlich oder spöttelnd wird Distanz gewahrt, als drohe dem, der sich zu stark auf das Fremde einläßt, Gefahr für die Seele. Als der aus Glückstadt an der Elbe stammende, in Moskau lebende Kaufmann Evert Ysbrands Ides in den Jahren 1692 bis 1695 eine Handelsdelegation quer durch Sibirien nach Peking führte, begegnete er am Ob den dort lebenden Ostjaken. Bewegt äußert er sein Entsetzen über den Brauch, "hölzerne und erdene" Abgötter mit Milchbrei zu füttern. Da sie ihn nicht verschlucken können, "laufft ihnen die weiße milch-speise zu beyden seiten aus dem munde, den gantzen leib hinunter, so daß dem der dieses sieht, das brey-essen davon wohl vergehen möchte". Daß es keine "wohlgeratenen Menschen" sein konnten, die solche Zauber trieben, war klar, und spätestens seit Johann Joachim Wickelmann 1764 seine "Geschichte der Kunst des Altertums" veröffentlichte, war diese Auffassung Allgemeingut der gebildeten Stände: "Regelmäßiger aber bildet die Natur, je näher sie nach und nach wie zu ihrem Mittelpunkt geht. - Folglich sind unsere und der Griechen Begriffe von der Schönheit ... richtiger, als welche sich Völker bilden können, die ... von dem Ebenbilde ihres Schöpfers halb verstellt sind."

Denn: "Die gepletschte Nase der Kalmükken, der Chinesen und anderer entlegener Völker ist eine Abweichung der Natur: denn sie unterbricht die Einheit der Formen. Der aufgeworfene schwülstige Mund, welchen die Mohren mit den Affen in ihrem Lande gemeinsam haben, ist ein überflüssiges Gewächs, welches die Hitze ihres Klimas verursacht." Für eine solche "Einsicht" konnte sich der Präsident der Altertümer des Vatikans auf die Zeugnisse der Reisenden berufen, und spätere Reisende beriefen sich auf Winckelmann. So fügte sich die erfahrene und die erdachte Welt zusammen, und jeder Winkel der Erde erhält seinen lang haftenden Stempel.

Der Schwarze Kontinent ist die Finsternis schlechthin. "Wenn man fürchterliche Erscheinungen der menschlichen Natur will kennenlernen, in Afrika kann man sie finden", faßt Hegel zusammen, was er über den Kontinent und dessen Bewohner erfahren hatte - durchaus im Einklang mit der "Warhafften Beschreibung ettlicher Reisen, 1596-1610" des Wundarztes Andreas Josua Ultzheimer, der über die Menschen in Guinea mitteilt: "Sie kaufen Kühe und Ochsen, die fressen sie auf, mit Därmen und allem Kot - wie sie es auch bei anderen Tieren tun -, und sind mit Tanzen und Springen sehr lustig dabei." Anders allerdings geht Ultzheimer mit Asien um. Da China sich als "Reich der Mitte" für das Zentrum der Erde hielt und damit den gleichen Anspruch wie Europa erhob, betrachtete er die Menschen fast als seinesgleichen, "weiß wie wir, binden aber ihr Haar auf dem Kopf zu Zöpfen zusammen wie Frauen. Sie tragen lange

Röcke, und man kann sie beinahe mit den Juden vergleichen." Bitter enttäuscht wiederum ist er in Südamerika. Als er zwischen Cayenne und Trinidad unterwegs war, schrieb er: "Die Einwohner dieser Länder sind ein grobes, wildes, unheimliches und barbarisches Volk ... Der gemeine Mann und Pöbel bei ihnen ißt auch haarige grüne scheußliche Raupen, deren es gar viel gibt, aber der größte Teil unter ihnen sind Menschenfresser."

Selbst nach der Landnahme der Weißen in der Neuen Welt, durch die Amerika beinahe ein Herz und eine Seele mit Europa hätte sein müssen, blieb das Unverständnis bestehen. Beweis dafür sei ein Brief Nikolaus Lenaus aus dem Jahr 1832 an seinen Schwager Schurz. Hier steht: "Der Amerikaner hat keinen Wein, keine Nachtigall! Mag er bei einem Glase Cider seine Spottdrossel behorchen, mit seinen Dollars in der Tasche, ich setze mich lieber zum Deutschen und höre bei seinem Wein die liebe Nachtigall, wenn auch die Tasche ärmer ist. Bruder, diese Amerikaner sind himmelanstinkende Krämerseelen. Tot für alles geistige Leben, mausetot. Die Nachtigall hat recht, daß sie bei diesen Wichten nicht einkehrt."

Auch in einer viel bereisten Welt, in der nur noch einige Flugstunden Dichtung und Wahrheit trennen, hat sich kaum etwas daran geändert. Der Reisende sucht, was er zu finden wünscht, und die meist etwas langweilige Wahrheit hat es weiterhin schwer, sich gegen die Dichtung durchzusetzen. Dabei fehlt es schon in der alten Reiseliteratur niemals an Warnungen und Einschränkungen: "Selbstverständlich sind auf dergleichen Charakteristiken nicht mehr zu geben als auf persönliche Eindrücke überhaupt ... Der Beobachter versucht Durchschnittswerte zu finden, er hat aber doch nur zwei Augen und nur eine Auffassungsfähigkeit. Man darf sich also hier auf meine Urteile ebenso wenig verlassen wie auf die zärtlichen Blicke einer Kokotte." Doch eine solche freiwillige Selbstkontrolle, der sich in diesem Fall Heinrich Laube bei seinen Reiseschilderungen unterwarf, ist jedoch selbst schon wieder Koketterie. Das Verfahren ist erprobt: Man gebe sich bescheiden und verweise auf die unverfrorenen Ansprüche anderer Autoren - und schon steigt die eigene Glaubwürdigkeit. Ein Beispiel unter vielen liefert Wilhelm Gottfried Ploucquet in seinen "Vertraulichen Erzählungen einer Schweizer Reise im Jahre 1786": "Unbefangen sage ich; wenigstens habe ich sorgfältig sowohl vor als auch nach der Reise meine Nase geprüft, ob sie mit irgend einer Brille besetzt sei, durch welche ich etwa die Gegenstände verändert, und anders, als sie in der Natur selbst sind; zu sehen gezwungen würde, und habe deren keine gefunden. Um so weniger also, was Sie mir auf mein Wort glauben können, werde ich mich mit Brillen-aufsetzen befassen, wie es die meisten Reisebeschreiber, weiß nicht warum, so gerne tun."

So schließt sich der Kreis mit der Versicherung von Objektivität - und die Mißverständnisse von der Welt schießen ins Kraut. "Ist einmal eine recht handgreifliche Abgeschmacktheit zu Papier gebracht", beklagt Chamisso, "so rollt selbige unablässig von Buch zu Buch, und es ist das erste, wonach die Büchermacher greifen."

Carl Friedrich Behrens, der an der Weltumseglung Roggeveens (1721-1722) teilnahm, beschrieb in dem Buch "Der wohl-versuchte Südländer", auf welche Weise sich der Reisende fremden Völkern nähern solle: Nicht mit Gewalt, sondern mit Verständnis, Zurückhaltung und Einfühlung. "Wo es aber auf solche Weise nicht angefangen wird, und man sich nicht auf die Erlernung ihrer Sprache leget, wird man nichts Gewisses von diesen Ländern in Erfahrung bringen, und alle Reisen werden vergebens, ... warum wir auch das Süd-Land nicht nach Wunsch und Willen entdeckt haben."

Foto: Einzug des Kronprinzen Friedrich von Preußen in Jerusalem 1869: Gemälde in Öl auf Leinwand (1876) von Wilhelm Gentz (1822-1890) (BpK)


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